Verantwortung übernehmen

„Das kann ich schon alleine“ – So lernen Kinder, selbst zu entscheiden

Wenn Kinder eigene Entscheidungen treffen, ist das ein Ausdruck von Autonomie. Erzieher Christian Huber empfiehlt Eltern, ihren Kindern solche kleinen Trainingseinheiten im Alltag zu gönnen. Er sagt: Manchmal hilft man am meisten, wenn man nicht hilft.

veröffentlicht am 11.11.2025

Möchtest du heute lieber die rote oder die gelbe Jacke anziehen? Mit dieser oder einer ähnlichen Frage beginnt der Tag nach dem vielleicht schnellen Frühstück in so manchem Haushalt, bevor der Weg zum Kindergarten oder zur Schule beginnt. Doch was, wenn die Antwort lautet: „Gar keine, ich gehe ohne Jacke!“?

Die eine oder der andere wird nun schmunzeln und sich denken, dass es sich angesichts einer solch „banalen“ Situation nicht lohnt, ein Drama zu veranstalten. Aus meiner Erfahrung aus der Einrichtung weiß ich aber, dass solche und ähnliche Fragen nicht selten schon früh morgens zu echten Stressfaktoren werden können. Ich finde darüber hinaus, dass an diesem einfachen Beispiel der Zwiespalt zwischen „Selbstständigkeit fördern“ und „das geht zu weit, ich weiß es besser“ gut sichtbar wird.

Ein kleiner Schritt in Richtung Selbstständigkeit 

Innerhalb der Einrichtung hören wir den Satz „Das kann ich schon alleine!“ immer wieder – nicht nur, wenn es darum geht, mit der Teekanne auf die Tasse zu zielen, aber auch dann. Manchmal mit trotzigem Unterton, manchmal schüchtern, manchmal voller Stolz. Jedes Mal steckt darin ein kleiner Schritt in Richtung Selbstständigkeit. Kinder wollen die Welt nicht nur erleben, sie wollen sie gestalten. Sie wollen mitreden, ausprobieren, Verantwortung übernehmen und manchmal auch scheitern, auch dann, wenn der Tee daneben geht. Doch wie viel Selbstbestimmung brauchen Kinder und wie viel Entscheidung dürfen, ja müssen wir ihnen zutrauen?

Wenn Kinder Entscheidungen treffen, üben sie nicht nur das Abwägen zwischen Alternativen. Sie lernen auch, ihre eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen und auszudrücken. Das Eingangsbeispiel klingt banal, ist aber ein erster Ausdruck von Autonomie. In solchen Momenten entwickeln Kinder ein Gefühl von Selbstwirksamkeit: Ich kann etwas tun, das Wirkung hat.

Zu viele Eingriffe verhindern, dass Kinder Verantwortung erlernen

Wir Erwachsenen neigen manchmal dazu, ihnen diese Erfahrung zu nehmen, sei es aus Zeitdruck, aus Fürsorge oder aus Angst vor Chaos, nach dem Motto: „Das geht schneller, wenn ich’s eben mache.“ Oder: „Das ist doch nichts für dich, das ist zu schwer.“ Verstehen Sie mich nicht falsch, jede und jeder erwischt sich dabei und das ist auch nachvollziehbar. Dennoch: Zu viele von diesen gut gemeinten Eingriffen verhindern, dass Kinder Verantwortung erlernen.

Selbstbestimmung entsteht nicht „einfach so“. Sie wächst in einem Umfeld, das Sicherheit und Vertrauen bietet. Trauen Sie Ihren Kindern etwas zu! Lassen Sie sie Entscheidungen treffen und begleiten Sie sie gleichzeitig, wenn etwas nicht gelingt! Selbstständigkeit bedeutet nicht, dass Kinder alles allein schaffen müssen. Es geht um Mitbestimmung in einem verlässlichen Rahmen. Freiheit braucht Grenzen: Nicht als Schranke, sondern als Orientierung, ähnlich wie das Geländer an einer Treppe.

Eigene Erfahrungen sind oft wirksamer als gute Worte 

Wenn ein Kind im Winter ohne Jacke raus möchte, kann man sagen: „Ich verstehe, dass du keine Lust auf die dicke Jacke hast. Lass uns ausprobieren, wie sich das draußen anfühlt.“ Das Kind entscheidet mit, erlebt aber auch die Konsequenz: Es ist kalt. Solche Erfahrungen sind häufig wirksamer als jedes „Zieh die Jacke an, sonst wirst du krank“. Kinder lernen durch Erfahrung. Was sie selbst gespürt und erlebt haben, verinnerlichen sie wesentlich besser, als das, was „die Erwachsenen“ gesagt haben.

Gönnen Sie Kindern Entscheidungen als kleine „Trainingseinheiten“ für den Alltag. Ob es darum geht, was sie anziehen, womit sie spielen oder wen sie zum Freund haben möchten: Jedes „ich entscheide“ stärkt ihr Selbstbild.

Selbstständigkeit ist kein plötzlicher Zustand, sondern ein Prozess

Für uns Erwachsene bedeutet das nicht selten: Kontrolle abgeben. Das ist nicht leicht. Wer Kinder begleitet, will sie schützen, ihnen helfen, sie fördern. Aber manchmal hilft man am meisten, wenn man nicht hilft. Auch dann, wenn das Anziehen der Schuhe auf diese Weise einen Moment länger dauert.

Selbstbestimmung braucht Mut auf beiden Seiten. Kinder müssen lernen, Risiken einzuschätzen. Erwachsene müssen lernen, Fehler zuzulassen, denn Selbstständigkeit ist kein plötzlicher Zustand, sondern ein Prozess. Sie wächst, wenn wir Kindern etwas zutrauen und schrumpft, wenn wir ihnen alle Entscheidungen abnehmen.

Lernen, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen 

Geben Sie Ihrem Kind das befreiende Gefühl, gehört und ernst genommen zu werden. Geben Sie Kindern den angemessenen Raum dafür und auch die Geduld, wenn mal etwas schiefgeht. Überprüfen Sie dabei immer wieder ob der Rahmen, den Sie natürlich vorgeben, noch stimmt, oder ob dieser erweitert werden könnte – oder wieder etwas eingeschränkt werden sollte, wenn er zu überfordern scheint. Am Ende steht die Erfahrung: Ich kann selbst entscheiden und ich darf dabei Fehler machen.

Wer früh lernt, eigene Entscheidungen zu treffen, wird später auch mutig genug sein, Verantwortung für sich, für andere und für die Welt zu übernehmen. Wünschen wir uns das nicht alle für unsere Kinder?


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