Schutz und Geborgenheit

Pflegefamilien als zweite Chance, um glücklich aufzuwachsen

Familie ist da, wo Menschen aufeinander achten. Das will Ines aus Tirol auch ihren Pflegekindern vermitteln. Seit drei Jahren nimmt sie als Sozialpädagogische Pflegestelle regelmäßig Kinder auf, die aus schwierigen Verhältnissen kommen.

veröffentlicht am 25.10.2022

So sieht ein gemütlicher Start in den Tag aus: Die sechsjährige Emma* ist heute als Letzte aufgestanden und rührt noch etwas verschlafen in ihrer Müslischüssel. Die Sonnenstrahlen fallen durch das große Fenster am Esstisch direkt auf ihre halblangen strohblonden Haare und lassen sie dadurch noch mehr leuchten. Schräg gegenüber hat es sich die zwölfjährige Maxima auf dem Sofa bequem gemacht. Mit einer Mischung aus Langeweile und höchster Konzentration scrollt sie ausdauernd auf ihrem Smartphone – mit Kopfhörern im Ohr, um sich ein wenig abzuschotten. Ihr fast zu Füßen sitzt ihre neunjährige Schwester Maja, die mit ihrer besten Freundin ins Spiel vertieft ist. Vor den beiden Mädchen tun sich ganze Playmobil-Welten auf, in die sie gemeinsam abtauchen. Nachdem Emma mit dem Frühstück fertig ist, rennt sie ins Badezimmer, wäscht sich die Hände und kann es kaum erwarten, mitzuspielen. Mama Ines räumt indes die Küche auf, Papa Matthias ist schon auf dem Feld zugange und holt das Heu ein. Die Familie hat zwar keinen Bauernhof, aber mit acht Pferden, einem Esel, drei Schafen, drei Hasen und vier Meerschweinchen allerhand Tiere zu versorgen. Den Familienhund nicht zu vergessen.

Es ist Sommer- und vor allem Ferienzeit. Daher geht alles etwas entspannter zu. Und diese Momente der Ruhe brauchen die Kinder genauso wie die Eltern – denn die Familie aus Tirol engagiert sich als Sozialpädagogische Pflegestelle. Angedockt an das Don Bosco Haus in Stams, einer Einrichtung der Don Bosco Schwestern, gibt es derzeit neun Familien, die bei diesem Konzept mitmachen und Kinder ab drei Jahren aufnehmen, die Vernachlässigungen und Gewalt erlebt haben und aus ihrer Herkunftsfamilie herausgenommen werden müssen. Kinder, die weder in einer Wohngruppe noch in einer normalen Pflegefamilie richtig aufgehoben wären. Doch bei den Sozialpädagogischen Pflegestellen finden sie die adäquate Unterstützung. Ein Elternteil muss dafür eine psychosoziale Berufsausbildung absolviert haben und ist in Teilzeit beim Don Bosco Haus angestellt, um sich qualifiziert um das Pflegekind kümmern zu können. In diesem Fall ist es Mama Ines, die Sozialpädagogin und Früherzieherin ist. „Ich habe während meines Studiums von diesem Konzept erfahren, und da war für mich klar: Das will ich machen, wenn meine Kinder groß genug sind, dass sie das auch verstehen können“, erinnert sie sich.

Und so kam Emma in die Familie – kurz nach ihrem vierten Geburtstag. „Doch dem Ganzen ging natürlich ein langer Prozess voraus. Wir haben ein Jahr ausführlich unsere Fragen abgearbeitet und viele Gespräche mit dem Don Bosco Haus geführt“, erklärt Ines. „Dann haben wir noch gewartet, bis Maja eingeschult wurde. Anschließend waren wir bereit für Emma.“ Und schon beim ersten Kennenlernen waren sich alle einig: „Das passt.“

Aufatmen und Vertrauen gewinnen

Es folgte eine intensive Zeit der Annäherung. Emma besuchte ihre zukünftigen Pflegeeltern mehrmals in ihrem neuen Zuhause – einmal sogar mit ihren leiblichen Eltern, was sonst eher die Ausnahme ist. Die 36-jährige Ines ist eine absolute Frohnatur, aber wenn sie von dieser Woche erzählt, ist ihr die Anspannung immer noch anzumerken: „Man kann das schwer in Worte fassen, aber das hat wahnsinnig viel Energie gekostet. Es war so spannend und herausfordernd zugleich, die ganze Situation zu bewältigen, dass man das Kind gut begleitet, aber auch die eigene Familie. Und gleichzeitig habe ich diese große Trauer der Eltern wahrgenommen, dass sie nicht allein für ihr Kind sorgen können. Erst als Emma eingezogen war, konnte ich richtig aufatmen.“

Emma fühlte sich sofort wohl, doch ihre ­Erlebnisse aus der frühen Kindheit hatten Spuren hinterlassen. „Emma hat das zuerst ganz abgespalten. Über die Vergangenheit hat sie gar nicht geredet“, beschreibt Ines die Anfangszeit. Emma wächst die ersten Jahre in einem Elternhaus mit viel Gewalt auf. Der Vater ist alkoholkrank, die Mutter zwar liebevoll, aber kognitiv eingeschränkt und psychisch durch Gewalterfahrungen in der eigenen Kindheit stark vorbelastet. „Wir haben schnell gemerkt, dass Emma bei ihren leiblichen Eltern ein Verhalten hinsichtlich Aggressionsbewältigung und Streitkultur gelernt hat, das für ein Kind nicht normal ist“, führt die Pflegemama aus. „Sie war trotz ihres jungen Alters sehr strukturiert, hat alles aufgeräumt und ordentlich hingestellt. Man spürte, sie muss auf sich schauen, dass alles passt.“ Doch irgendwann konnte auch Emma aufatmen. „Dann hat auch sie angefangen, ihre Schuhe einfach in den Flur zu schmeißen und ihr Zeug herumliegen zu lassen“, sagt Ines und lacht. „Da wusste ich, dass sie sich jetzt fallen lassen kann. Vorher hat sie immer versucht, alles im Griff zu haben, wofür sie als Kind gar nicht zuständig war. Das hat sie mittlerweile abgelegt, weil sie jetzt Vertrauen in uns hat.“

Verantwortung und Sorgen teilen

Ein paar Probleme mit der Körperwahrnehmung hat Emma zwar noch, doch gerade der Umgang mit den vielen Tieren hilft ihr sehr. Und so freut sich die Sechsjährige jedes Mal, wenn sie die Meerschweinchen füttern darf oder die Pferde auf der Koppel besuchen kann. Ihre leiblichen Eltern sieht sie regelmäßig. „Das gelingt mal besser, mal schlechter“, sagt Ines. Der Kontakt zur Herkunftsfamilie ist ein fest verankerter Punkt im Konzept der Sozialpädagogischen Pflegestellen. „Es ist gut, wenn das Kind transparent weiß, wo es herkommt“, erklärt Veronika Latta-Flatz vom Don Bosco Haus. Die Sozialpädagogin begleitet sechs der neun Familien. „Die Kinder verstehen meistens sehr gut, warum sie da sind, was zu Hause los war und warum sie von dort wegmussten. Für die Pflegeeltern ist das hingegen eine große Herausforderung, dass man sich immer bewusst ist: Das Kind ist nicht meines – auch wenn natürlich eine starke Bindung entsteht.“ Doch gerade hier liege der Vorteil der Sozialpädagogischen Pflegestellen: „Man ist nicht allein. Pflege und Erziehung des Kindes obliegen der Einrichtung und der Pflegestelle. Die Verantwortung wird geteilt.“

Genauso wie die Sorgen. Anfangs schaut Veronika Latta-Flatz wöchentlich bei den Familien vorbei, später alle zwei Wochen: „Ich habe riesengroßen Respekt vor den Familien, die Wahnsinniges leisten. Es gibt natürlich irrsinnig viele Höhen und Tiefen und manchmal auch das Gefühl, gar nichts beim Kind ausrichten zu können. Aber alle unsere Pflegestellen haben große Freude da­ran.“ Natürlich bräuchte es noch mehr solcher Pflegestellen, aber „es ist nicht einfach, neue Familien zu finden. Denn es ist nicht nur ein Beruf, es hat schon etwas mit Berufung zu tun, ein Kind, das keine ideale Familiensituation hatte, bei sich aufzunehmen und 24/7 zu betreuen. Das eigene Familiensystem wird da ja auch komplett durchgerüttelt.“

Und bei Ines und ihrer Familie noch einmal mehr, denn sie sind die einzige Sozialpädagogische Pflegestelle, die auch sogenannte Krisenpflegekinder aufnimmt. Also Kinder, die schnell untergebracht werden müssen und maximal acht Monate bei ihnen leben, bis eine neue Lösung gefunden wird. Das letzte Krisenpflegekind kam in der Weihnachtszeit 2021. „Das war wirklich ein besonderer Fall, weil das Kind davor auch bei der Kinder- und Jugendhilfe nicht bekannt war. Und dann hast du ein Kind, das nur mit der Kleidung, die es am Körper trägt, dasteht, einem Stofftier in der Hand und mehr nicht. Du kennst keine Hintergründe, kannst dich nicht vorbereiten“, erzählt Ines. „Das fordert noch einmal mehr. Danach braucht man erst einmal ein paar Wochen, um wieder stabil zu sein für das nächste Krisenkind.“ Und diese Zeit nimmt sie sich mit ihrer Familie. Das Krisenpflegekind lebt mittlerweile in einer therapeutischen Wohngruppe. „Wir haben lange überlegt, was das Beste für es ist. In seinem Fall war eine Wohngruppe besser, weil es eine intensivere Betreuung braucht, die bei uns nicht möglich wäre. Dort gibt es viel Personal, das sich gegenseitig abwechseln kann.“

Am Fuße der Zugspitze springen die drei Mädchen übers Feld und helfen Papa Matthias, das Heu aufzulockern. Emma ist als Einzige barfuß unterwegs und ruft vergnügt: „Das piekst.“ Ein unbeschwerter Sommertag. Die Familie aus Tirol hat zueinandergefunden. Für Emma eine zweite Chance, um glücklich aufzuwachsen. Für Maja und Maxima gute Voraussetzungen, um in ihrem Leben vorurteilsfrei zu bleiben. „Unsere Mädchen werden sich wahrscheinlich immer trauen, erst einmal offen auf andere zuzugehen“, hofft Mama Ines. „Bei allen Mühen ist das auch für uns ein großer Gewinn. Wir haben es so fein und ich genieße es, für die Kinder da zu sein. Für meine und für die Pflegekinder. Für mich ist das weder anstrengend noch Arbeit, für mich ist das Freiheit.“

* Name von der Redaktion geändert

Kinder in Pflegefamilien – Zahlen

12.871 Kinder und Jugendliche wurden laut Kinder- und Jugendhilfestatistik 2021 in Österreich fremdbetreut. 61,3 Prozent lebten in sozialpädagogischen Einrichtungen (vor allem 14- bis unter 18-Jährige), 38,7 Prozent waren Pflegekinder.

Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes waren 2020 in Deutschland fast 90.000 Kinder in einer Pflegefamilie untergebracht, 127.000 in Heimen oder sonstigen betreuten Wohnformen.


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