Sternenkinder

Wenn Eltern Abschied nehmen müssen, bevor das Leben angefangen hat

Unsere Autorin Claudia Klinger war im vierten Monat schwanger, als sie erfuhr, dass ihr ungeborenes Kind nicht lebensfähig sein würde. Eine Woche später kam der kleine Junge tot zur Welt. Wie Eltern und Geschwister bis heute mit dem Verlust umgehen.

veröffentlicht am 16.11.2023

Der Geburtstagskuchen steht auf dem Tisch, Zuckerguss, Smarties und eine einzelne Kerze oben drauf. Unsere beiden Kinder sitzen davor und streiten, wer sie ausblasen darf. „Wir alle gemeinsam“, sage ich und kann dann selbst nicht mitpusten, weil ein dicker Kloß in meinem Hals steckt und mir Tränen in die Augen steigen. Denn das Geburtstagskind fehlt. Emil wäre unser drittes Kind gewesen, unser doppelter kleiner Bruder. Wir feiern seinen ersten Geburtstag, aber Emil ist gestorben, noch bevor er zur Welt kam.
 
Ein Jahr und eine Woche zuvor fällt der Satz, der meine Welt zusammenbrechen lässt: „Ihr Kind ist nicht lebensfähig.“ Ich bin im vierten Monat schwanger, und obwohl meine Frauenärztin oft gesagt hat, dass das Baby viel zu klein ist für die errechnete Schwangerschafts­woche, hatte ich nie wirklich Angst, dass diese Schwangerschaft nicht glücklich enden würde. Schließlich hat sie mich an einen Kollegen überwiesen. Seine Praxis ist auf Diagnostik vor der Geburt spezialisiert. Er hat die Möglichkeit, einen 3D-Ultraschall zu machen und genau festzustellen, was mit dem Baby los ist. Das Ergebnis will ich eigentlich nicht hören. „Es tut mir leid, aber Ihr Kind ist nicht lebensfähig“, sagt er und erklärt, dass das Baby einen offenen Rücken hat, einen Herzfehler und ein Problem mit der Lunge. Emil hat Triploidie, einen seltenen Gendefekt, bei dem jedes Chromosom dreimal vorhanden ist statt nur zweimal. Der Arzt redet weiter, aber mein Kopf schaltet aus. Ich will nach Hause, will aufwachen und merken, dass alles nur ein böser Traum war. Mein Baby lebt doch. Es ist doch da. Ich kann es in meinem Bauch spüren.
 
Unser Baby hatte damals noch nicht einmal einen Namen. Aber wir hatten eine Vorstellung davon, wie es wäre, den kleinen warmen Körper im Arm zu halten, es krabbeln und mit seinen Brüdern spielen zu sehen. Es ist seltsam, wenn ein Kind stirbt, das noch gar nicht auf der Welt war. Es gibt keine gemeinsamen Erinnerungen, kein Vermissen im eigentlichen Sinn. Es gibt nur zerstörte Hoffnung, enttäuschte Vorfreude. Und die Dinge, die niemals sein werden. Einen Namen auszusuchen, der niemals mit Leben gefüllt wird, kommt mir erst sinnlos vor. Ich werde ihn niemals rufen und niemals liebevoll flüstern. Aber dann siegt die Erkenntnis, dass unser Baby einen Namen verdient hat. Es soll nicht vergessen werden. Es soll Emil heißen.

Als würde er schlafen

Eine Woche später halte ich mein Kind im Arm. Ein winziges Bündel, eingemummelt in eine Decke und eine zu große Babymütze auf dem winzigen Kopf. Nur das Gesicht ist zu sehen. Ich streichle ihm über die Wange. Die Haut ist so weich und so zart. Und so kalt.
 
Mein Mann und ich haben ein eigenes Zimmer auf der Geburtsstation, abgeschirmt von den anderen Eltern – den glücklichen mit lebendigem Kind. Die Geburt war anstrengend. Ich habe mich danach so kraftlos gefühlt, dass ich nicht einmal mein totes Kind im Arm halten konnte. Deshalb hat die Hebamme uns Emil noch einmal gebracht. „Nehmen Sie sich Zeit für ihn“, hat sie gesagt und uns auch geraten, ein Foto zu machen. Auf dem Bild sieht es aus, als würde er schlafen. Es ist das einzige Bild, das wir jemals von ihm haben werden. Aber ich bin froh, dass es da ist. Ich brauche Erinnerungen an dieses Kind. Etwas, das bleibt. Ich lasse einen kleinen silbernen Kettenanhänger mit seinem Namen gravieren. Im Garten legen wir einen Stein für Emil ins Kräuterbeet, gut sichtbar vom Küchenfenster und umgeben von Duft und Blüten. In unserem Heimatort gibt es eine Selbsthilfegruppe für verwaiste Eltern. Durch Spenden finanzieren sie auch ein Grab für still geborenes Leben auf dem städtischen Friedhof. Dort lassen wir Emil beerdigen. Ich mag den Gedanken, dass er andere Kinder um sich hat, dass er nicht alleine ist. Und obwohl es erschreckend ist, wie viele kleine Engels­figuren, Plüschtiere und Kerzen dort an verstorbene Kinder erinnern, hat der Gedanke, dass wir nicht die einzigen Eltern sind, die ein Kind vor der Geburt verloren haben, etwas Tröstliches.

Verschiedene Arten, zu trauern

Im Alltag ist das ganz anders. Mir fällt jede Schwangere auf und jeder Papa, der einen Kinderwagen stolz vor sich herschiebt. Und es macht mich wütend, sie zu sehen. Warum dürfen die ihr Kind haben und ich nicht? Im Kindergarten begegne ich einer Mama, die gleichzeitig mit mir schwanger war und ihr Kind jetzt bekommen hat. Alle anderen gratulieren ihr. Ich nicht. Ich kann nicht. Es tut so unendlich weh, ihr Glück zu sehen. Auch wenn ich es ihr gönne und wir uns eigentlich gut verstehen.

Ich kann nicht verstehen, dass das Leben einfach so weitergeht, während meine Welt stillsteht. In der Arbeit bin ich krankgeschrieben. Manchmal lege ich mich einfach ins Bett, höre traurige Musik und starre zum Fenster hinaus. Und nachts kann ich nicht schlafen. Ich stehe auf, weil ich das ruhige, gleichmäßige Atmen nicht ertrage, das bedeutet, dass mein Mann sehr wohl schlafen kann. Wie kann er einfach weitermachen? Es dauert, bis wir unsere beiden so verschiedenen Arten, zu trauern, zusammenbringen. Bis wir eines nachts gemeinsam im Flur sitzen und darüber reden, dass es mir guttut, zu weinen und mich zurückzuziehen, und dass er genau das Gegenteil braucht: das Normale, das Vertraute, das Schöne im Leben. Es dauert eine Weile, bis ich das auch wieder kann: das Schöne im Leben sehen und genießen. Wenn wir Freunde und Bekannte treffen, ist es manchmal schwierig, weil viele nicht so recht wissen, was sie zu uns sagen sollen. Am besten finde ich es, wenn sie mich einfach fragen: „Wie geht es dir?“ Dann kann ich selbst entscheiden, ob ich von Emil erzähle oder einfach nur „schon okay“ sage und das Thema wechsle.

Ein Engel, der die Familie beschützt

Meistens tut es gut, über Emil zu reden. Ich bin froh, dass ich Menschen habe, die mir immer wieder zuhören. Meine Eltern, meine beste Freundin und die anderen Mamas aus meiner Sternenkinder-Gruppe, einem Rückbildungskurs für Frauen nach stiller Geburt. Dabei geht es weniger um Gymnastik für den Beckenboden als um Austausch, gemeinsames Trauern und darum, sich verstanden zu fühlen. Manche haben ihr Kind schon sehr früh in der Schwangerschaft verloren, manche erst kurz vor der Geburt. Für einige war das tote Kind ihr erstes und andere haben wie ich schon lebendige Kinder. Jede Geschichte ist anders und schrecklich, aber das Wissen, nicht alleine zu sein, tut unendlich gut.
 
Auch mit unseren beiden großen Kindern reden wir über Emils Tod. Jonathan ist bei Emils Geburt vier und Julian fast zwei Jahre alt. So richtig verstehen sie nicht, was passiert ist. Sie haben zwar gewusst, dass in meinem Bauch ein Baby wächst und dass sie bald ein Geschwisterchen bekommen sollten. Aber weil Emil nie wirklich da war, weil sie ihn nie sehen oder berühren konnten, ist er für seine Brüder mehr eine Figur aus einer Geschichte als ein reales Familienmitglied. Ein Engel, der unsere Familie beschützt, ist die Vorstellung, die ihnen am besten gefällt.
 
Mittlerweile wäre Emil sieben Jahre alt. Sein Geburtstag ist ein festes Ritual in unserem Familienkalender. Wir feiern jedes Jahr mit Kuchen und gemeinsamem Kerzenausblasen. Meistens bin ich an diesem Tag traurig und nah am Wasser gebaut. Weil Emil immer noch fehlt. Aber ich bin auch unendlich dankbar für die Kinder, die ich lebendig im Arm halten kann. Und das sind jetzt sogar drei. Mir war schnell klar, dass ich noch ein Kind haben will, dass ich noch eines brauche, um über Emils Tod hinwegzukommen. Paul kam 16 Monate nach Emil zur Welt. Er hat ihn nicht ersetzt, aber für mich ist er mein persönliches Happy End.

Portrait Claudia Klinger

Claudia Klinger (43) ist Redakteurin bei Don Bosco Medien und lebt mit ihrer Familie in der Oberpfalz. Ihre Söhne sind elf, neun und sechs Jahre alt. Ihr Sohn Emil wäre heute sieben Jahre alt.

Beratungs- und Hilfesangebote

Bundesverband Verwaiste Eltern und trauernde Geschwister in Deutschland
www.veid.de

Initiative REGENBOGEN „Glücklose Schwangerschaft“
www.initiative-regenbogen.de

Verein Regenbogen Österreich
www.shg-regenbogen.at

Fachstelle Kindsverlust während Schwangerschaft, Geburt und erster Lebenszeit
www.kindsverlust.ch

Stiftung Dein-Sternenkind
www.dein-sternenkind.eu



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