Geschlechtsidentität

Junge? Mädchen? Einfach Mensch!: Wenn Kinder anders fühlen und wie Eltern sie unterstützen können

Nicht jedes Kind kann sich mit seinem biologischen Geschlecht identifizieren. Im Alltag führt das zu vielen Herausforderungen. Zwei Familien erzählen, wie sie diese meistern und wie sie ihre Kinder auf der Suche nach der eigenen Identität begleiten.

veröffentlicht am 02.08.2023

Montagmorgen in einem kleinen Dorf in der Oberlausitz. Die zehnjährige Malou* hat die Arme voller Kuscheltiere und kommt noch etwas verschlafen in die Küche getapst. Dort arrangiert sie Teddy & Co. sorgfältig auf einer ausgebreiteten Decke. Kuscheltiere liebt Malou über alles, sie hat bestimmt mehr als 80 davon. Malou ist ein aufgeschlossenes Kind. Sie kann sich für vieles begeistern, hört gerne Detektiv-Hörspiele, ist sehr kreativ – und sie kann gut über ihre Gefühle sprechen und frisst nichts in sich hinein. Daher hat sie ihrer Mama Julia* ein halbes Jahr vor der Einschulung auch prompt mitgeteilt, dass sie jetzt ein Junge sein möchte. „Für mich kam das ziemlich überraschend“, erinnert sich die 36-Jährige an diesen Moment. „Ich konnte es zuerst nicht einordnen und hatte vorher auch nichts in dieser Richtung wahrgenommen.“
 
Doch Julia verfiel in keine Panik, sondern tauschte sich schnell mit ihrem Mann Thorsten* (40) aus. „Mir war es ganz wichtig, dass wir uns gleich verständigen und dass wir uns vor allem einig sind. Wir wussten zwar nicht, wie es genau weitergeht, aber für uns war klar, dass Malou unser Kind bleibt und wir sie auf ihrem Weg unterstützen.“ Durch diese Einigkeit konnten sie nach außen eine Gelassenheit ausstrahlen, die sich auf ihre beiden anderen Kinder und ihr gesamtes Umfeld übertragen hat.
 
Julia und Thorsten haben von Anfang an „kein großes Ding“ daraus gemacht. „Ich glaube, Außenstehende haben das anstrengender empfunden als wir“, erzählt Julia. Malou ließ sich die Haare abschneiden, trug nur noch Hosen und ist auf die Jungentoilette gegangen. Sie durfte so sein, wie sie ist. Auch in der Schule. „Das fand ich wirklich bemerkenswert, wie locker die Lehrerinnen und Lehrer damit umgegangen sind. Damit hätte ich gar nicht gerechnet. Sie konnte sich sogar aussuchen, ob sie sich für den Sportunterricht bei den Jungen oder den Mädchen umziehen möchte.“

Was zählt, ist der Zusammenhalt in der Familie

Geredet wurde natürlich trotzdem, davon ist Julia überzeugt. „Aber es wurde nie direkt an uns herangetragen. Das läuft eher subtil. Mittlerweile sind wir aber soweit, dass es uns egal ist, was die Leute von uns denken. Wir als Familie müssen zueinanderstehen. Das ist das Allerwichtigste.“ Doch es war ein Prozess, um zu dieser Einstellung zu gelangen. Genauso wie zu dem entspannten Umgang mit der Gesamtsituation, räumt Julia ein: „Zu Beginn habe ich immer noch versucht, Malou in irgendeine Schiene zu pressen. Das war so unschön im Miteinander und hat so viel Unruhe in unser Familienleben gebracht. Ich habe gemerkt, dass das nichts bringt. Da ist es besser, sie zu begleiten und zu unterstützen, damit sie ihre Identität finden kann.“
 
Und an diesem Punkt steht Malou immer noch. Sie geht wieder auf die Mädchentoilette und zieht sich wieder bei den Mädchen für den Sportunterricht um, aber eindeutig als Mädchen sieht sie sich nicht. „Das schwankt immer ein bisschen“, erklärt Julia. „Sie probiert aus, wie viel sie vom Mädchen zulässt, wie viel vom Jungen, und wo ihre Grenzen sind. Sie weiß, dass sie biologisch ein Mädchen ist, und will mit ‚sie‘ angeredet werden, aber im Moment fühlt sie sich einfach als Malou. Wir fragen da auch nicht jeden Tag nach. Sie ist authentisch und sie ist sie selbst, ohne sich kategorisieren zu müssen.“

Das trifft auch auf Leon* zu. Als seine Oma einmal „So, junger Mann“ zu ihm gesagt hat, war seine Antwort: „Ich weiß nicht, ob ich ein Mann werden will, aber ich bin sicher ein Mensch.“ Der fünfjährige Leon lebt mit seiner Familie in einem 5.000 Seelendorf in der Schweiz und wird meistens für ein Mädchen gehalten. Brotbox, Kindergartenrucksack, Sandalen – alles muss rosa bei ihm sein. Er hat ein Faible für pinke T-Shirts mit glitzernden Wendepailletten und hat eine Zeit lang auch Röcke getragen. Die sind ihm beim Klettern und Fahrradfahren allerdings zu unpraktisch geworden. „Außerdem ist er sich der Wirkung bewusst, dass das bei einigen Gleichaltrigen oder bei älteren Kindern nicht so gut ankommt“, sagt Mama Bianca*.

Blöde Sprüche gibt es immer wieder

Die 42-Jährige und ihr Mann Dominik* (33) legen großen Wert darauf, dass ihre vier Kinder ohne Klischees und Stereotypen aufwachsen. Doch im Alltag machen sie immer wieder die Erfahrung, dass nicht alle mit einem Kind, das sich nicht geschlechtskonform verhält, umgehen können. „Da kommt schon mal ein blöder Spruch – von Erwachsenen oder auch manche Kinder geraten durcheinander und wissen nicht, ob sie ‚er‘ oder ‚sie‘ zu Leon sagen sollen. Aber wir besprechen das offen und kritisch mit ihm“, so Bianca. „Er ist sehr reflektiert und macht sich schon seine Gedanken darüber.“
 
Gerade jetzt, wo er bald vom Kindergarten in die Schule wechseln wird. Seine Sorge: „Wenn ich turnen gehe, sehen alle Jungs beim Umziehen, dass ich Mädchenunterhosen trage.“ Also hat Mama Bianca kurzerhand eine Packung unifarbener schwarzer Mädchenunterhosen bestellt, die er an den Turntagen in der Schule anziehen kann. Auf die Frage, ob es sie ärgert, dass Leon schon jetzt das Gefühl hat, sich anpassen zu müssen, antwortet sie abwägend: „Entweder man fällt auf und muss sich gegen die anderen positionieren oder man findet Kompromisse, ohne sich zu sehr verstellen zu müssen. Da gibt es kein richtig oder falsch. Das muss Leon für sich entscheiden. Er weiß, dass er nicht den anstrengendsten Weg gehen muss, aber er weiß auch, dass wir immer hinter ihm stehen.“
 
Welchem Geschlecht sich Leon als Erwachsener einmal zugehörig fühlen wird, können die Eltern selbst nicht einschätzen. „Ich mache mir da auch gar keine Gedanken, weil mir das so egal ist“, erklärt Papa Dominik. „Das Einzige, was für mich zählt, ist, dass er happy ist und ein zufriedenes Leben führen kann.“ Und das kann für Leon momentan noch ganz unterschiedlich aussehen. „Er mag zum Beispiel auch Dragqueens sehr gerne“, ergänzt Bianca. „Die findet er mit all dem Glitter super. Das hat er auch schon als Option für sich gesehen.“

Eltern müssen sich nicht schämen, Hilfe anzunehmen

Sowohl Leon als auch Malou haben großes Glück, Eltern zu haben, die sie unterstützen und ihnen den Raum geben, sich selbst auszuprobieren. Das ist nicht immer so, weiß Christian Schrettenbrunner. Der psychologische Berater leitet in Cuxhaven zwei Selbsthilfegruppen – eine für queere Menschen, die andere für An- und Zugehörige. „Für Eltern kann das sehr schwierig sein. Viele haben Angst, dass ihr Kind ausgegrenzt und in Schule oder Beruf nicht richtig wahrgenommen wird“, berichtet er. „Und manche haben Probleme, zu akzeptieren, dass ihre Tochter nun kein Mädchen oder ihr Sohn kein Junge mehr sein will. Da muss man sich selbst Zeit geben. Seit einigen Jahren habe ich beispielsweise eine Mutter in der Gruppe, die zunächst mit kompletter Ablehnung reagiert hat. Doch Schritt für Schritt hat sie sich dem Thema genähert.“
 
Christian Schrettenbrunner rät Eltern dazu, sich über Beratungsangebote und Selbsthilfegruppen in der Nähe zu informieren. „Eltern müssen sich nicht schämen, Hilfe anzunehmen. Für sie ist es wichtig, sich auszutauschen und auch einmal ohne Schuldgefühle darüber weinen zu können, dass ihr Kind anders, als sie es sich erwartet haben, leben möchte. Eltern dürfen sagen, dass das für sie Mist ist und dass sie nicht wissen, was sie jetzt machen sollen. Das ist in Ordnung“, so der 66-jährige Coach. „Wichtig ist aber, dass sie dem eigenen Kind trotzdem zuhören, es wahrnehmen und seine Bedürfnisse nicht abtun.“
 
Mama Julia kann das nur bekräftigen: „Wenn das eigene Kind sich mit sich selbst auseinandersetzt und vielleicht mit sich hadert, dann darf ihm nicht noch die elterliche Liebe entzogen werden. Gerade jetzt braucht es den sicheren Hafen der Eltern. Jedes Kind hat die bedingungslose Wertschätzung seiner Eltern verdient.“ Denn nur so können Kinder unbeschwert aufwachsen – ganz unabhängig von ihrem biologischen oder gefühlten Geschlecht.

* Name von der Redaktion geändert

Linktipp

Trans-Kinder-Netz e.V. (Trakine) ist ein Verein von Eltern und Familienangehörigen mit trans Kindern und trans Jugendlichen unter 18 Jahren. Trakine setzt sich dafür ein, trans Kindern ein glückliches Leben frei von Stigmatisierung und Ausgrenzung zu ermöglichen. Eltern sollen durch den Erfahrungsaustausch gestärkt und Fachkräfte wie Pädagogen und Pädagoginnen oder Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter aufgeklärt werden.


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