Achtsamkeit

Wie eine Pädagogin die Begegnung zwischen Mensch und Tier fördert

Schon lange werden Tiere als Freunde und Helfer der Menschen eingesetzt. Auf dem Hof von Regina Eisl nahe Salzburg kommen Kinder und Jugendliche hautnah mit Alpakas, Schildkröten und Schnecken in Kontakt und üben Achtsamkeit vor allem, was lebt.

veröffentlicht am 12.08.2021

Sie sind ein eingespieltes Team. Die zweijährige Anna schiebt selbstbewusst ihre kleine grüne Schubkarre vor sich her. Zielstrebig steuert sie einen Haufen von Pferdeäpfeln an, den ihr Bruder Gabriel bereits mit einem Rechen zusammengeschoben hat. Anna zückt ihre Sandkastenschaufel und beginnt, die Pferdeäpfel in ihre Schubkarre zu befördern. Während sie jede ihrer Tätigkeiten laut kommentiert und immer wieder nach Bestätigung bei ihrer Mutter Regina Eisl sucht, die gemeinsam mit ihren Kindern den Offenstall ausmistet, verrichtet der zwölfjährige ­Gabriel seine Aufgaben ohne große Worte. Meist hilft er gerne mit, manchmal muss er sich ein wenig überwinden. „Die Hauptverantwortung für die Tiere liegt natürlich bei mir“, erklärt Regina Eisl. „Für Anna ist das ganz toll, wenn sie die Tiere zum Beispiel füttern darf. Da ist das sehr spielerisch. Aber wenn man älter wird, merkt man, dass das eine Beständigkeit ist und dass man manchmal einfach gebraucht wird. Da zählt jede helfende Hand.“

Doch Gabriel ist ein absoluter Tierfreund. Er will später sogar Schafzüchter werden. Sein zwei Jahre älterer Bruder Georg mag am liebsten den Golden Retriever der Familie. Regina Eisl ist davon überzeugt, dass gerade für das soziale Lernen alle Kinder davon profitieren, mit Tieren aufzuwachsen. In ihrem Fall bedeutet das: mit sieben Kaninchen, zwei Schildkröten, zwei Meerschweinchen, zwei Minischweinen, sechs Hühnern, fünf Pferden, drei Alpakas, drei Laufenten, einem Hund, einer Katze und vier Achatschnecken.

Tiere sind schon immer ihre große Leidenschaft 

Mit ihrem Mann betreibt die 37-jährige gelernte Diplompädagogin eine Gemüse-Landwirtschaft bei Salzburg. Ihre große Leidenschaft sind allerdings die Tiere. Schon immer gewesen: „Früher wollte ich Tierärztin werden, dann bin ich Volksschullehrerin geworden. Doch die Idee, Tiere und Pädagogik zu verknüpfen, blieb. Ich habe zu Beginn nur noch nicht ganz gewusst, wie das gehen soll.“ Nach und nach belegte Regina Eisl verschiedene Kurse und absolvierte eine Ausbildung zur Fachkraft für tiergestützte Pädagogik. Seit mittlerweile mehr als zehn Jahren unterstützt sie gemeinsam mit ihren Tieren Kinder und Jugendliche mit den unterschiedlichsten Problemlagen. Depressionen und Essstörungen sind sehr häufig vertreten genauso wie Störungen des Sozialverhaltens. „Ich arbeite auch ganz oft mit Kindern, die ihre Emotionen nicht regulieren können, heftig weinen, schreien und toben. Oder mit Kindern, die in der Schule gemobbt werden. Auch Kinder und Jugendliche, die sexuell missbraucht wurden oder körperliche Gewalt erfahren haben, kommen auf unseren Hof. Oder Kinder, die in einer Wohngemeinschaft leben, weil ihre Eltern sie nicht wollen.“

Bei manchen Kindern und Jugendlichen stellen sich schnell Erfolgserlebnisse ein, bei anderen brauche es erst einmal viel Zeit, um überhaupt eine Beziehung aufzubauen. Erst dann könne sie mit der eigentlichen Arbeit und ihren pädagogischen Zielen beginnen, führt Regina Eisl aus. Aber egal, welches Kind, egal, welches Defizit, die Tiere fungieren immer als Eisbrecher und Türöffner. Das bestätigt auch Rainer Wohlfarth, Vize-Präsident der „International Society of Animal-Assisted Therapy“: „Ein ganz wichtiger Punkt ist, dass Tiere Bindungsobjekte sein können. Die Kinder und Jugendlichen gehen zwar mit ihren gleichen Bindungsmustern auf die Tiere zu, aber da Tiere anders als Menschen reagieren, können Tiere diese Bindungsmuster schneller verändern – und diese veränderten Bindungsmuster werden auf uns Menschen zurückübertragen. Der Jugendliche kann sich seinem Betreuer gegenüber dann zum Beispiel anders verhalten als vorher.“

Tierische Unterstützung auch bei Don Bosco

Ein Effekt, den auch das Jugendhilfezentrum Don Bosco Sannerz in Hessen nutzt. Seit Oktober 2013 besteht dort eine Kooperation mit einer Reittherapeutin, von der etwa 35 bis 40 Jugendliche pro Jahr profitieren – finan­ziert vom Jugendamt. „Wir haben zunehmend mehr Kinder und Jugendliche, die so traumatisiert sind, dass sie den Zugang zu anderen und zu sich selbst schwer finden“, erklärt Einrichtungsleiter Patrick Will. „Die Reittherapie bewirkt, dass sie viel offener werden und sich auch in der verbalen Ausdrucksweise verbessern. Da merkt man ganz massive Veränderungen.“ Das Jugendhilfezentrum will die tierische Unterstützung sogar noch ausbauen und arbeitet zurzeit an einem Hundekonzept. „Einige Mitarbeiter, die privat einen Hund haben, haben den einmal mitgebracht und gemerkt, dass die Grundstimmung in der Wohngruppe plötzlich positiver ist, wenn der Hund mit dabei ist“, so Erziehungsleiter Martin Lotz. „Jetzt soll es aber nicht so sein, dass einfach jeder seinen Hund mitbringt, es muss schon einen pädagogischen Mehrwert haben – und nicht jeder Hund ist ja auch dafür geeignet.“ Daher wird gerade ein Regelwerk erstellt, welche Kriterien notwendig sind, damit ein solcher Einsatz für Mensch und Tier sinnvoll ist.

Ein Aspekt, den auch Regina Eisl mit Nachdruck betont, denn tiergestützte Therapie und Pädagogik sind keine geschützten Begriffe. „Es reicht eben nicht, einfach eine Ziege auf der Wiese stehen zu haben. Man kann sonst so viel Schaden anrichten“, warnt sie. Um das Image der tiergestützten Interventionen zu fördern, plädiert Rainer Wohlfarth für mehr fundierte Forschung. „Das ist ein relativ junges Feld, das hat eigentlich erst 1970/1980 angefangen. Es gibt einfach viel zu wenig gute Studien dazu. Wir brauchen ein empirisches Fundament, um zu schauen, was wirkt tatsächlich und in welchen Bereichen. Im Moment ist es noch extreme Erfahrungswissenschaft.“

In der Ruhe liegt die Kraft

Sehr gute Erfahrungen macht Regina Eisl mit ihren Achatschnecken. Mit einer Gehäuselänge von bis zu 20 Zentimetern und einer Körperlänge von bis zu 30 Zentimetern gehören sie zu den größten Landschnecken der Welt. „Die Schnecke ist ein ganz tolles Beispiel, wie Tiere wirken können. Die Achatschnecken können sich ganz in ihr Haus zurückziehen und kommen nur wieder heraus, wenn man die Hand ruhig hält. Ich habe viele Kinder da, die extrem ungeduldig sind oder diesen Stempel ‚ADHS‘ aufgedrückt bekommen haben. Allein der Ansporn ‚Ich schaff das, ich bleib still, weil dann vielleicht die Schnecke herauskommt.‘ kostet auf anderen therapeutischen Schienen schon so viel Kraft. Das macht bei mir dann die Schnecke.“

Und die darf sich jetzt auch der dreijährige Rafael aus der Nähe anschauen. „Mein Sohn ist sehr schüchtern und introvertiert“, erklärt seine Mutter. „Bei Regina fremdelt er während der Stunde gar nicht mehr. Sie geht super auf die Kinder ein. Manchmal hat er auch aggressive Tendenzen – die Tiere geben ihm viel Ruhe.“ Anfangs ist Rafael noch sehr verschüchtert und versteckt sich hinter dem Bein seiner Mutter. Er war im Auto eingeschlafen. Erschwerte Bedingungen für Regina Eisl. Doch sie bleibt hartnäckig, stellt ihm behutsam eine Frage nach der anderen. „Willst du mal die beiden Schnecken nehmen?“ „Nein, nur eine“, antwortet er vorsichtig. „Kannst du auf die Schnecke aufpassen?“ Er nickt bestimmt. Gemeinsam füttern und baden sie die Schnecke. „Ich glaube, du kannst schon ganz viel“, ermutigt die Pädagogin ihren kleinen Klienten. „Wenn ich da bin, dann kann ich das“, sagt Rafael nun recht selbstbewusst. Er taut immer mehr auf. Am Ende der Stunde ist er wie ausgewechselt. Ein leichtes Gewitter hat eingesetzt. Rafael ruft „Regentanz, Regentanz“ und hüpft auf und ab. Freudig winkend verabschiedet er sich. „Genau dafür mache ich das“, sagt Regina Eisl und lacht. „Es ist ein schönes Gefühl, zu ­sehen, dass man etwas bewirken kann.“

Gemeinsam mit ihren Tieren. Das sei einfach ihr Leben. „Bei mir gibt es keine Tiere, die ich nur für die Arbeit gekauft habe. Das sind Tiere, die mir sehr am Herzen liegen und die ich dann jahrelang für diese Arbeit ausgebildet habe. Die Tiere sind also nicht nur Arbeit für mich, sondern im weiteren Sinne auch Familie.“


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