Unterstützung für Angehörige

Familienleben mit Behinderung

Der Alltag mit einem behinderten Kind stellt Eltern und Geschwister vor enorme Herausforderungen. Was betroffene Familien sich wünschen, erklären Franz Göppel und Maria Plank vom Verein zur Betreuung und Integration behinderter Kinder und Jugendlicher.

veröffentlicht am 27.02.2017

Mit welchen Problemen sind Eltern von behinderten Kindern konfrontiert?
Göppel: Die meisten Eltern stellen sich die Frage: Warum wir? Diese Frage begleitet Eltern oft über viele Jahre hinweg und sie setzen sich immer wieder damit auseinander. Ein ganz großes Thema ist außerdem: Wo gibt es einen Kindergartenplatz oder eine Schule? Die Frage nach Inklusion stellt sich: Braucht mein Kind einen geschützten Raum in einer Fördereinrichtung, oder soll es möglichst mit den Kindern aus der Nachbarschaft in die Schule gehen? Welche Therapie ist gut für mein Kind? Eine weitere Frage ist: Wie organisiere ich mein Leben, und wie gelingt uns das als Familie? Auch die Paarbeziehung steht unter besonderer Belastung: Wenn sich der Fokus stark auf das behinderte Kind richtet, kann das auch Auswirkungen auf die Paarebene haben. Und: Oft hört ein Elternteil auf, zu arbeiten. Das wirkt sich auf die finanzielle Situation aus.

Hinzu kommt, dass sich die Eltern auch noch mit Pflegekasse und so weiter beschäftigen, sich durch den Paragrafendschungel wühlen müssen. Zudem sind die Eltern oft viel unterwegs, weil die passenden Einrichtungen oft nicht in der Nähe sind.

Ist unter solchen Bedingungen überhaupt ein normales Familienleben möglich?
Göppel: Es gibt solche und solche Familien. Aber ja, es ist möglich. Wenn auch immer mit einer Besonderheit. Was mir wichtig ist: Das Ganze ist nicht nur negativ. Ich höre oft, dass Kinder mit Behinderung auch eine Bereicherung sind. Zum Beispiel, wenn ein Kind plötzlich etwas schafft, was man gar nicht von ihm erwartet hat. Oder die Lebensfreude von Kindern mit Down-Syndrom, ihr Strahlen, das ist etwas enorm Positives.

Das soziale Umfeld reagiert sehr unterschiedlich auf Behinderte. Was wünschen sich die Eltern von den Menschen, mit denen sie in Kontakt kommen?
Göppel: Sie wünschen sich Offenheit. Dass sie mit ihrem Kind auf den Spielplatz gehen können, ohne dass sie ausgegrenzt werden. Dass die Gesellschaft es aushält, wenn ein Kind in der U-Bahn lautiert, also Geräusche macht, und dass es da nicht zu blöden Bemerkungen kommt. Sie wünschen sich Anerkennung für das, was sie leisten. Und sie wünschen sich, dass sie nicht verantwortlich gemacht werden für ein Kind mit Behinderung. In Bezug auf Schulen und Therapien wünschen sich Eltern eine Wahlmöglichkeit. Dass sie sich für das entscheiden können, was gut für ihr Kind ist, ohne dass das ein Kampf ist.

Viele Eltern sind unsicher, ob sie sich eine Auszeit von der Betreuung ihres Kindes nehmen können oder dürfen. Was raten Sie ihnen?  
Göppel: Ich finde es wahnsinnig wichtig, dass sie sich diese Auszeiten nehmen. Es gibt beispielsweise Angebote der Kurzzeitpflege, die man wahrnehmen kann. Auszeiten sind wichtig, um einmal als Paar oder auch mit dem Geschwisterkind in den Urlaub zu fahren, mit ihm vielleicht sogar einmal etwas zu unternehmen, was das behinderte Kind nicht kann. Die Eltern, die das tun, erleben es als sehr positiv. Sie merken, dass ihr behindertes Kind es auch mal ein paar Tage ohne sie schafft. Sie lernen, loszulassen, können sich Schritt für Schritt daran gewöhnen.

Wie kommen die Geschwister von behinderten Kindern zurecht?
Plank: Da gibt es große Unterschiede. Wie gut oder schlecht es ihnen damit geht, hängt nicht unbedingt von der Schwere der Behinderung ab, sondern vor allem davon, wie die Familie mit der Behinderung umgeht. Wenn das Geschwisterkind gut aufgeklärt ist über die Behinderung, viel darüber weiß und versteht, warum die Eltern weniger Zeit für es haben, tut es sich viel leichter damit als in Familien, in denen die Behinderung ein Tabuthema ist und sich die Eltern selbst noch schwer tun damit.
Wir haben seit dem vergangenen Jahr Angebote für Geschwisterkinder, und wir merken, dass viele Eltern bewusst darauf achten, dass diese Kinder auch einmal etwas für sich bekommen.

In welcher Verantwortung für den Bruder oder die Schwester stehen die erwachsenen Geschwister, wenn die Eltern sich nicht mehr kümmern können?
Göppel: Der Standard ist, dass dann die Geschwister die Betreuung übernehmen. Viele Menschen mit geistiger Behinderung brauchen einen gesetzlichen Betreuer. Das machen meistens die Geschwister oder zumindest jemand aus dem familiären Umfeld, weil da natürlich eine größere Vertrautheit besteht, als wenn ein Fremder das übernimmt.

Plank: Viele Geschwister übernehmen diese Verantwortung gerne. Wichtig  ist aber, dass es ihre eigene Entscheidung ist, ob sie das machen möchten.

Wie können die Eltern sicherstellen, dass es ihrem Kind auch nach ihrem Tod gut geht?
Göppel: Meines Erachtens geht das relativ früh los. Indem die Eltern lernen, das Kind loszulassen, indem sie sich darum kümmern, wo es später leben kann. Sie sollten gemeinsam mit dem Kind überlegen, wo, in welcher Wohnform, es ihm gut geht, wo es Ansprechpartner hat. Auch die finanzielle Seite ist wichtig. Der Nachlass wird immer noch über das Behindertentestament geregelt. Die Eltern können damit rechtlich sicherstellen, dass das Geld, das sie vererben, auch wirklich dem Kind zugutekommt und nicht direkt an die Sozialträger abgeführt werden muss. Generell gilt: Je mehr das Kind vorher in soziale Kontakte eingebunden ist, desto besser ist es später, wenn die Eltern nicht mehr da sind.

Was kann die Gesellschaft dafür tun, dass Familien mit behinderten Kindern besser leben können?
Göppel: Kinder mit Behinderung treten in unserem Lebensalltag kaum in Erscheinung. Seit den 1960er-, 1970er-Jahren haben wir ein Fördersystem aufgebaut, das sicherlich gut gemeint war, das aber auch ganz stark aussortiert. Ich hoffe, dass sich das ändert! Dass Kinder mit Behinderung, dass Menschen mit Behinderung mehr auftauchen in unserem Alltag. Dass die Gesellschaft es schafft, mehr Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung zur Verfügung zu stellen. Dass Kinder mit Behinderung normal sind und dass Menschen im Miteinander voneinander lernen. Dass Behinderung okay ist.

Das sagen Betroffene

"Es müsste Helfer für Familien mit behinderten Kindern geben, die das Krankheitsmanagement übernehmen, also solche Dinge wie Schulsuche, Anträge, Gutachten, Abrechnungen. Von 316 Euro Pflegegeld kann ich als pflegende Mutter nicht leben. Aber ich bin mit meiner Kraft am Limit und fürchte, dass ich meinen anspruchsvollen Job bald nicht mehr ausüben kann."
Mutter, 43 Jahre, eines behinderten Jungen, 7 Jahre

"Viele halten Menschen mit Behinderung für eine Last. Natürlich kann es anstrengend sein und man muss sein bisheriges Leben etwas umstellen. Aber es lohnt sich! Durch meinen kleinen Bruder habe ich gelernt, nicht nur auf mich selbst zu achten, zu schätzen, was ich habe, und das Leben so anzunehmen, wie es kommt. Ohne ihn wäre aus mir nicht der Mensch geworden, der ich  heute bin."
Sophie, 21 Jahre, Schwester des 15-jährigen Xaver, der schwerstbehindert ist

Was Eltern von Behinderten Kindern nicht mehr hören wollen

Die Amerikanerin Darla Clayton, Mutter eines Sohnes mit zerebraler Bewegungsstörung, hat im Internet eine Liste mit Bemerkungen veröffentlicht, die Eltern von Kindern mit Behinderung nerven. Und auch gleich dazugeschrieben, wie man’s besser machen kann. Die ins Deutsche übersetzten zehn Punkte hat die Zeitschrift Stern auf ihrer Homepage veröffentlicht.

Göppel und Plank vom BIB am Tisch beim Interview

Franz Göppel ist Geschäftsführer und Pädagogischer Leiter des Vereins zur Betreuung und Integration behinderter Kinder und Jugendlicher (BIB) e.V. in München. Maria Plank ist Pädagogische Mitarbeiterin. BIB bietet Beratung, Familienentlastung, Schulbegleitung, Freizeitangebote und Schulsozialarbeit an.

Buchtipps

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In ihrem Blog „zweiterfebruar“ schreibt Amelie Ebner über ihr Leben im Rollstuhl. Am 2. Februar 2013 hatte sich die damals 17-Jährige bei einem Skiunfall den sechsten Halswirbel gebrochen und ist seitdem querschnittgelähmt. Im Knaur Verlag erschien Ebners Ebners Buch „Willkommen im Erdgeschoss. Wie ich mich mit 17 im Rollstuhl wiederfand“.


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