Ohne Fleisch

Interview mit Ärztin Barbara Hauer: Wenn Kinder Vegetarier werden

Wenn ein Kind plötzlich kein Fleisch mehr essen will, kann das auch für den Rest der Familie einige Veränderungen mit sich bringen. Die Ärztin Barbara Hauer weiß, was zu beachten ist – aus ihrem Beruf und aus eigener Erfahrung.

veröffentlicht am 05.09.2021

„Ich ess ab heute kein Fleisch mehr.“ Wie sollten Eltern reagieren, wenn ihr Kind mit dieser Botschaft auf sie zukommt?
Auf jeden Fall entspannt. Sie sollten sich erklären lassen, warum sich das Kind so entschieden hat, wie es sich das vorstellt und dann mit ihm gemeinsam überlegen, wie sie die Ernährungsumstellung gut hinbekommen. Es kommt natürlich darauf an, welchen Hintergrund und welche persönliche Einstellung man zu vegetarischer Ernährung hat. Aber egal wie man selbst dazu steht: Die Kinder sind groß genug, um das für sich zu überlegen und zu entscheiden. Selbst wer sehr skeptisch ist oder sogar ablehnend, sollte in den Austausch mit dem Sohn oder der Tochter treten.

Was bedeutet die Entscheidung für den Rest der Familie?
Das kommt darauf an, wie der Rest der Familie in Bezug auf dieses Thema tickt. Wer offen ist und ohnehin schon überlegt hat, den Fleischkonsum zu reduzieren, kann die ganze Familie ins Boot holen. Besteht die Familie aber vorwiegend aus begeisterten Fleischessern, also Mischköstlern, geht es darum einen Weg zu finden, mit dem alle möglichst glücklich werden. Da gibt es viele Möglichkeiten, es ist allerdings zugegebenermaßen ein bisschen aufwendig.

Zumindest für diejenigen, die für das Einkaufen und Kochen zuständig sind, wird es komplizierter...
Das hängt davon ab, wie man vorher aufgestellt war. Ich habe schon den Eindruck, dass die durchschnittliche Familie bei uns noch sehr fleischbetont isst und Gemüse einfach nur die Beilage ist. Ich vertrete definitiv die Haltung, dass es nicht reicht, für das vegetarische Familienmitglied einfach das Fleisch wegzulassen und nur die Beilagen anzubieten. Das mag kurzfristig funktionieren, aber langfristig ist das keine Lösung. Teenager sind im Wachstum und haben einfach mehr Nährstoffbedarf, und auch der höhere Energiebedarf muss gedeckt werden.

Man muss sich da schon Gedanken machen und sollte die Stellschrauben in der Ernährung kennen, an denen eventuell nachjustiert werden muss. Das ist unter Umständen erst einmal anstrengend und nervig, aber es lohnt sich für die ganze Familie. In vielen Küchen ist da durchaus noch Luft nach oben, denn in vielen Familien wird nicht genügend Gemüse und Obst gegessen.

Welche Nährstoffe brauchen Kinder und Jugendliche, die sich vegetarisch ernähren, unbedingt und wie kommen sie dran?  
Alle Jugendlichen haben natürlich denselben Nährstoffbedarf, unabhängig von der Ernährungsform. Auch bei Mischköstlern kann bei der Nährstoffversorgung oft Einiges noch optimiert werden. Wird auf Fleisch und Fisch verzichtet, fallen in erster Linie wichtige Proteinquellen weg. Das ist aber eigentlich kein Problem, denn es werden ja noch Eier, Milch und Milchprodukte verzehrt, zusätzlich sollten aber unbedingt hochwertige pflanzliche Proteinquellen genutzt werden. Zu den wichtigsten zählen Hülsenfrüchte sowie Vollkorngetreide, auch Haferflocken sind beispielsweise sehr proteinreich. Wichtig ist es, die tierischen mit den pflanzlichen Proteinquellen klug zu kombinieren. Das sind Beispiele für Stellschrauben, die sich leicht drehen lassen und mit denen sich viel erreichen lässt.

Ein weiterer Nährstoff, bei dem es durch Fleisch- und Fischverzicht kritisch werden kann, ist Vitamin B12. Das lässt sich durch Nahrungsergänzungsmittel oder Vitamin-B12-haltige Zahncreme gut ausgleichen. Auch auf eine ausreichende Calciumzufuhr ist zu achten, das gelingt zum Beispiel über calciumreiches Mineralwasser, zusätzlich zu Milch und Milchprodukten oder mit Calcium angereicherten Milchalternativen, beispielweise aus Soja. Vitamin D ist grundsätzlich wichtig für Couchpotatoes, die nicht gerne rausgehen, denn es wird als Vorstufe in der Haut mit Hilfe von Sonnenlicht gebildet. Den Jodbedarf kann man ganz einfach durch jodiertes Speisesalz decken. Auch die ausreichende Zufuhr von Zink, Selen und Omega-3-Fettsäuren ist in dieser Lebensphase wichtig. Gerade bei den Mädchen, die durch die Regelblutung Blut verlieren, ist zudem der Eisenbedarf erhöht. Ob das Kind oder der Jugendliche unter Umständen gezielt bestimmte Nährstoffe in Form von Nahrungsergänzungsmitteln zu sich nehmen sollte, kann der Kinder- und Jugendarzt oder die Kinder- und Jugendärztin am besten einschätzen.

Wie können Eltern unterscheiden, ob sich ihr Kind einfach nur anders ernähren will oder die Gefahr einer Essstörung droht?
Das ist nicht so einfach. Die von einer Essstörung betroffenen Kinder und Jugendlichen wissen sehr gut, wie sie vertuschen können, dass sie eigentlich eine ganz andere Intention haben als sich einfach nur pflanzenbasierter zu ernähren. Da heißt es, ganz genau hinzuschauen. Eine Anorexia nervosa, also eine Magersucht, fällt noch am ehesten durch die Gewichtsabnahme auf und dadurch, dass zu kleine Portionen verzehrt werden. Andere Essstörungen, bei denen die Betroffenen die Kalorien durch Erbrechen oder Abführmittel wieder loswerden, sind oft nicht so einfach zu erkennen, außerdem können die Übergänge fließend sein oder es liegen Mischformen vor. Oftmals ist eine Essstörung auch mit einem vermehrten Bewegungsdrang verbunden, mit der Nutzung von Schrittzählern und Apps, mit ständigem Joggen oder exzessivem Sporttreiben.

Es ist wichtig, mit dem Kind immer im Gespräch zu bleiben, die Augen offen zu halten und auch Signale aus dem Umfeld wahrzunehmen. Zu diesem Thema möchte ich auf die Informationsbroschüren der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung verweisen, die sehr lesenswert sind. Wer Fragen und Bedenken hat, sollte sich lieber zu früh Hilfe suchen oder den Kinder- und Jugendarzt bzw. die -ärztin einbinden. Die Fachleute haben einen Blick dafür, ob etwas im Argen liegt, und auch durch eine Blutuntersuchung lässt sich prüfen, ob die Ernährung suboptimal ist.

Was tun in Sondersituationen wie im Urlaub oder bei Verwandtenbesuchen, damit das Essen dort nicht regelmäßig zum Problem wird?
Hier lohnt es sich, sich gut vorzubereiten. Soll es ein Urlaub in einer Unterkunft inklusive Verpflegung sein, sollten Sie im Vorfeld darauf achten, dass auch für Vegetarier etwas dabei ist. Ich habe gute Erfahrungen mit Buffets gemacht, weil sich da alle nehmen können, was sie gerne mögen. Bei Selbstversorger-Häusern habe ich immer ein kleines Notfall-Pack dabei mit Sojagranulat, vegetarischen Brotaufstrichen und Gemüsebrühe. Über das Internet können Sie sich vorab informieren, wo es geeignete Einkaufsmöglichkeiten und Restaurants mit vegetarischen Gerichten im Angebot gibt.

Wenn man Leute besucht, die eher zur unflexiblen Sorte der Mischköstler oder Fleischliebhaber zählen, würde ich im Vorfeld nebenbei erwähnen, dass eines ihrer Familienmitglieder zum Vegetarier geworden ist und fragen, ob man etwas Vegetarisches für die Tochter oder den Sohn mitbringen soll. Insbesondere Großeltern sind hier schnell mal überfordert, die kann man beruhigen, indem man sagt, kein Problem, wir bringen zum Aufwärmen etwas mit. Missionieren oder Aufklären kommt meist nicht gut an. Erstmal müssen sich alle daran gewöhnen und es ist besser, die Ernährungsumstellung einfach vorzumachen und dann zu sehen, wie sich das weiter entwickelt und ob das eventuell auch die Neugierde weckt und das Verständnis mit der Zeit größer wird.

Und was tun, wenn das Kind entscheidet, dass es vegan leben will?
Hier ist es noch wichtiger, von wo aus das Kind startet.  Bei wählerischen Mischköstlern, bei denen man sich schon bei der Umstellung zur ovo-lakto-vegetarischen Ernährung Sorgen machen würde, wird eine vegane Ernährung von heute auf morgen natürlich erst recht eine Herausforderung. Jugendliche haben ja zudem viele andere Sachen im Kopf, wissen meist nicht so viel über Ernährung und sind zudem oftmals keine ausgewiesenen Gemüseliebhaber. Manche glauben, es ist doch gar nicht so schwer, auf alle tierischen Produkte zu verzichten. Aber es ist ja nicht damit getan, jetzt nur noch Nudeln mit Tomatensoße oder Pommes zu essen. Das reicht zur Bedarfsdeckung und für ein gesundes Wachstum nicht aus, vor allem, wenn nur geringe Nährstoffreserven vorhanden sind. Wer sich vegan ernähren will, muss wirklich sehr gut informiert und diszipliniert sein und willens, die ganze Produktpalette an nährstoffdichten Lebensmitteln zu nutzen. Nicht umsonst ernähren sich viele Veganer zunächst eine lange Zeit vegetarisch. Das Herantasten über eine ausgewogene und bedarfsdeckende vegetarische Ernährung halte ich für sinnvoll, und vielleicht lässt sich ja erstmal ein Kompromiss finden.

Wenn wenig Verhandlungsspielraum vorhanden ist, muss den Jugendlichen klar sein, dass es ihre Mitarbeit braucht und sie sich auch selbst schlau machen müssen. Hilfreich kann auch der Besuch eines Kochkurses sein. Die zuständigen Fachgesellschaften empfehlen bei veganer Ernährung, unbedingt den Kinder- und Jugendarzt, sowie eine qualifizierte Ernährungsfachkraft hinzuzuziehen.

Ich kann die Motivation der Jugendlichen sehr gut verstehen, es ist letztendlich konsequent, was Tierwohl und Klimaschutz anbelangt. Aber ich verstehe auch die Skepsis der Fachgesellschaften, die sagen, das ist eine vulnerable Lebensphase, in denen eine Mangelernährung Konsequenzen hat und wo man schnell in einen Bereich kommen kann, der nicht gut ist. Mögliche Folgen könnten sein, dass der Jugendliche nicht mehr so gut wächst, sich in der Schule schlechter konzentrieren kann, oder eine Blutarmut entwickelt. Das muss man im Auge behalten. Werden die Jugendlichen in einem vegetarischen Haushalt groß wird oder finden Unterstützung durch erfahrene Veganer im Umfeld, dann sind die Voraussetzungen natürlich ganz andere.

Porträt Ärztin Barbara Hauer

Barbara Hauer ist promovierte Ärztin und Gesundheitswissenschaftlerin. Die Mutter von zwei Kindern ist Autorin von „Ich ess ab heute kein Fleisch mehr! Wenn aus Teenies Veggies werden“ (Trias Verlag), das auch auf eigenen Erfahrungen basiert. Hauers Tochter hatte sich als Teenager entschieden, auf Fleisch zu verzichten. Weitere Informationen auf ihrer Website veggie4teens.de.


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