Diskriminierung

„Ich hatte immer das Gefühl, nicht richtig zu sein“

In unserer Gesellschaft bedienen wir immer noch viel zu viele Klischees, findet die Körperaktivistin Melodie Michelberger. Mädchen müssen hübsch sein, dicke Menschen sind automatisch Verlierer. Auch sie selbst litt jahrelang unter diesen Stereotypen.

veröffentlicht am 27.06.2022

Sie sind als Körperaktivistin selbst viel auf Instagram unterwegs. Wie vermitteln Sie Ihrem Sohn, dass nicht alle Bilder dort 1:1 der Realität entsprechen?
Mein Sohn ist mittlerweile 14 Jahre alt. In der vierten Klasse der Grundschule fing er an, WhatsApp und YouTube zu nutzen, später kamen noch Instagram und TikTok dazu. Er ist nicht sehr aktiv bei Social Media, aber wenn er ein Bild selbst teilt, verwendet er gerne irgendwelche Filter. Für ihn war das immer schon eher spielerisch, er setzt sich irgendwelche Ohren auf oder wählt einen Manga-Filter. Ich habe mit ihm bereits sehr früh darüber gesprochen, dass Filter und Bildbearbeitung das Aussehen verzerren können und dass Menschen so natürlich nicht aussehen. Für ihn war das aber ehrlich gesagt relativ logisch. Vielleicht liegt das auch daran, dass er mit mir aufwächst, denn ich beschäftige mich jeden Tag mit diesem Thema und wir diskutieren seit Jahren über problematische Schönheitsideale und Vorurteile gegenüber bestimmten Körperformen. Ihm ist zum Beispiel auch bewusst, dass nicht nur Filter und Bildbearbeitungsprogramme das Aussehen eines Menschen verändern können, sondern auch die Lichtverhältnisse und Pose.
 
Wie oft wenden sich Eltern an Sie, weil sie ratlos sind, wie sie ihrem Kind ein gesundes Körpergefühl vermitteln können?
Sehr oft. Was ich allen immer sage, ist, dass es bei ihnen selbst anfängt. Uns fällt oft gar nicht auf, wie abwertend wir uns über den eigenen Körper oder den anderer Menschen äußern. Auch geben wir heranwachsenden Mädchen andere Komplimente als Jungs. Mädchen werden viel häufiger für ihr Äußeres gelobt: ‚Du hast ein tolles Kleid.‘ oder ‚Du siehst aber niedlich aus.‘ Jungs bekommen ganz andere Komplimente. Sie werden dafür gelobt, dass sie mutig sind oder irgendetwas Tolles gemacht haben. Das prägt sich natürlich bei den Mädchen ein. Sie denken dann, dass es wichtiger ist, wie sie aussehen. Deswegen sollten wir darauf achten, was wir für Komplimente geben und ob wir mit Mädchen anders als mit Jungs sprechen. Kinder sollten – unabhängig vom Geschlecht – für Eigenschaften gelobt werden: Du kannst toll auf Bäume klettern. Du kannst prima vorlesen, basteln, tanzen oder Theater spielen.
 
Was ich aber am allerwichtigsten finde, ist, dass Eltern den Körper der eigenen Kinder nicht bewerten. Das fällt den meisten wahnsinnig schwer. Eltern haben das Gefühl: Wenn ich das nicht sage, dann sagt das ja niemand. Und genau darum geht’s. Kinder wachsen sowieso mit allen gesellschaftlichen Vorurteilen, Stigmatisierungen und Stereotypen auf. Es wäre also gut, wenn wir nicht dazu beitragen, diese auch noch zu schüren.
 
Sie haben es gerade angedeutet: Sind Schönheit und Aussehen Themen, die vor allem Mädchen und junge Frauen betreffen?
Ja. Das hat etwas mit den patriarchalen Machtstrukturen zu tun. Mädchen wird wenig angeboten, was sie noch sein dürfen. Die Beschäftigung mit dem eigenen Erscheinungsbild und die Suche nach der „perfekten“ Figur wird so für viele Frauen und Mädchen zur Lebensaufgabe. Auch wenn man sich beispielsweise Frauenmagazine anschaut, drehen sich die Inhalte dort immer noch hauptsächlich um die Themen Schönheit, Wohnen, Ernährung. Bei den großen Influencerinnen ist das genauso. In diesen Strukturen wachsen wir alle auf. Und das ist ja auch nicht erst so, seit es die sozialen Medien gibt. Das war schon in meiner Kindheit so, wenn ich „Bravo Girl“ oder die „Brigitte“ von meiner Mutter gelesen habe. Mit mir hat niemand darüber gesprochen, dass das alles auch verzerrte und veränderte Bilder sind, dass das alles Models sind, die einem bestimmten Look entsprechen. Es ist einfach krass, dass es damals wie heute bei den meisten Mädchen und Frauen vor allem um Schönheit, Abnehmen und Schminken geht. Ich will das gar nicht verteufeln, aber ich finde es äußerst kritisch, dass Mädchen so wenig Alternativen geboten werden, damit sie genauso Lust bekommen, sich für andere Themen zu interessieren.
  
Sie selbst haben lange gebraucht, um sich von solchen äußeren Einflüssen zu lösen und für sich ein positives Körpergefühl zu entwickeln. Wie ist Ihnen das gelungen?
Das ist immer die Schlüsselfrage. Wenn ich da zwei knappe Sätze hätte, wäre das natürlich wunderbar, aber das ist leider ein sehr langer Prozess gewesen. Der entscheidende Moment, der dazu geführt hat, kam durch ein Burnout, als ich Ende 30 war. Dadurch hatte ich viel Zeit, mich mit meinem Leben zu beschäftigen. Es war, als hätte jemand ein Puzzle auf den Boden geworfen, und ich musste mir jedes Teil genau anschauen, um es wieder zusammenzusetzen. Da ist mir dann auch aufgefallen, wie schlecht ich jahrzehntelang mit meinem Körper umgegangen bin. Diäten, Essstörungen, exzessiver Sport – ich hatte immer das Gefühl, nicht richtig zu sein. Und dann kam die Frage: Wär’s denn wirklich so schlimm, wenn ich nicht so dünn wäre, wie ich dachte, dass ich es sein muss? Das war zuerst ein zaghafter Gedanke, der dann zu dem gewachsen ist, was er heute ist.
  
Was hätten Sie sich als junges Mädchen gewünscht? Was hätten Sie gebraucht, um schon früher mehr Selbstbewusstsein zu entwickeln?
Ich hätte mir gewünscht, dass nicht alle Erwachsene in meinem Umfeld ständig negativ über meinen und ihren eigenen Körper sprechen. Mit sieben Jahren wollte mir meine Mutter einen Rock nicht kaufen. Sie sagte: ‚Den kannst du nicht tragen, der betont deinen dicken Hintern noch mehr.‘ Da war ich sieben Jahre alt! Bis zu dem Zeitpunkt war ich super happy. Ich war ein eher wildes Mädchen, bin durch Bäche gewatet und auf Bäume geklettert. Ich bin viel Rollschuh gefahren, bin ganz oft hingefallen und hatte immer kaputte Knie. Ich war ein fröhliches Kind. Aber durch diese Rock-Episode schlich sich auf einmal das Gefühl ein, dass ich eigentlich gar nicht richtig bin und dass ich etwas falsch gemacht habe. Und solche abwertenden Kommentare zu meinem Äußeren kamen immer wieder von meiner Mama, meiner Oma, meinen Tanten. So fing ich an, mit zwölf Jahren meine erste Diät zu machen, und rutschte dann ziemlich schnell in eine Essstörung, war mit 16 magersüchtig.
 
Ich hätte mir einfach jemanden gewünscht, der mal sagt: ‚Hey, du bist toll, so wie du bist. Und schau mal, was du alles mit deinem Körper machen kannst.‘
 
Es gibt viele Bewegungen rund um dieses Thema. Stichwort: „Body Positivity“ oder „Body Neutrality“. Sie engagieren sich als Körperaktivistin. Was ist Ihnen dabei wichtig?
Ich finde, wir brauchen noch viel mehr Bewusstsein dafür, dass es Menschen in Körpern gibt, die extreme Formen von Diskriminierung erfahren, die abgewertet und ausgegrenzt werden. Die Anfänge der Body Positivity-Bewegung gehen eigentlich auf die Fatliberation in den 60er/70er Jahren zurück, als Schwarze queere Frauen gegen Diskriminierung und Body Shaming gekämpft haben. Durch Social Media wurde die Bewegung extrem verwässert und kommerzialisiert – vor allem auch, umso mehr weiße, schlanke Frauen sich diesem Hashtag bedient haben. Ich verwende diesen Begriff daher nie – auch deshalb nicht, weil ich nicht möchte, dass meine Follower denken: ‚Jetzt muss ich mich auch noch selbst lieben. Immer soll man etwas leisten.‘ Darum geht’s mir in meiner Arbeit nicht. Natürlich wäre das schön, wenn sich jeder in seinem Körper wohlfühlt, aber das ist nicht der Schlüssel, um gesellschaftlich weiterzukommen. Ich will dafür sensibilisieren, dass es Körper gibt, die unterschiedliche Privilegien haben. Mir geht es nicht um die Selbstliebe vor dem Spiegel, sondern um ein tief verankertes Problem in unserer Gesellschaft, mit dem schon unsere Kinder konfrontiert werden.

Portrait Melodie Michelberger

Melodie Michelberger (45) hat viele Jahre als Moderedakteurin gearbeitet und lange Zeit gegen ihren eigenen Körper angekämpft. Als Körperaktivistin und Autorin setzt sie sich heute für mehr Vielfalt und gegen Fettfeindlichkeit ein.

Was ist damit gemeint?

Body Shaming
Body Shaming bedeutet, jemanden wegen seines Körpers und seines äußeren Erscheinungsbildes zu beschimpfen und zu diskriminieren – vor allem im virtuellen Leben. Das können einzelne beleidigende Kommentare unter Social Media-Posts sein und kann bis zu gezieltem Mobbing führen. Übergewicht ist der häufigste Grund für Body Shaming.
 
Body Positivity
Die Body Positivity-Bewegung hat ihre Ursprünge nicht auf Instagram, sondern fällt in eine Zeit, in der der Feminismus immer mehr erwachte. In den 60er und 70er Jahren kämpften dicke und/oder Schwarze Frauen in den USA gegen strukturelle Diskriminierung in allen Lebensbereichen. Zum Social Media-Trend wurde die Bewegung erst in den letzten Jahren – mit dem Ziel, zu zeigen, dass jeder Körper einzigartig und schön ist. Der Hashtag #bodypositivity ist zurzeit einer der meistgenutzten auf Instagram und TikTok.
 
Body Neutrality
Die Body Neutrality-Bewegung will sich komplett vom Äußeren lösen. Man soll seinen Körper nicht hassen, muss ihn aber auch nicht mit all seinen Makeln lieben. Der Körper ist nur die Hülle für Gefühle und Gedanken, die für die Body Neutrality-Bewegung im Vordergrund stehen.


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