Wohnraum

Stadt oder Land – Wo Familien leben wollen

Die einen schwärmen von der Natur vor der Haustür mit viel Platz auf dem Land, die anderen vom Freizeitangebot und kultureller Vielfalt in der Stadt. Wie Familien den für sie perfekten Ort zum Leben finden und warum der nicht für alle gleich aussieht.

veröffentlicht am 24.07.2024

Basketball spielen mitten auf der Straße, mit Nachbarskindern durch die Gärten ziehen oder über die Wiese nebenan toben. Kaum Straßenverkehr, kein Lärm, keine Hektik. „Hier ist es einfach entspannt“, fasst Moritz Bittner das Leben in seinem Heimatdorf zusammen. Der zwölfjährige wohnt mit seinem achtjährigen Bruder Georg und seinen Eltern in Batzhausen, einem Ort mit rund 900 Einwohnern in der Nähe von Regensburg. Und er wohnt gerne dort.

„Für uns war es eigentlich ganz selbstverständlich aufs Land zu ziehen“, erklärt Mama Monika Bittner (44). Sie und ihr Mann Norbert (46) sind beide selbst in Dörfern aufgewachsen. Kennengelernt haben sie sich allerdings in Würzburg, wo beide studiert haben. „Wir haben auch das Stadtleben genossen“, sagt Monika Bittner. „Aber es war immer klar, dass wir mit Kindern wieder zurück aufs Land wollen.“

Damit sind die Bittners kein Einzelfall. In der 2023 erschienenen Studie „Neu im Dorf“ hat das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung festgestellt, dass sich besonders 30- bis 49-Jährige mit ihren minderjährigen Kindern für ein Leben auf dem Land entscheiden. Die einen, weil sie gute Erinnerungen an die eigene Kindheit auf dem Land haben, die anderen, weil sie sich ein Familienleben auf dem Land idyllisch vorstellen oder weil ihnen in der Stadt der Wohnraum zu wenig oder die Mieten zu hoch sind.

Auf dem Land kennt man sich

Bittners haben vor 13 Jahren ein Einfamilienhaus mit Garten am Rand von Batzhausen gebaut. Sie lieben die Ruhe ihres Wohnortes, die Nähe zur Natur und die Vertrautheit in der Dorfgemeinschaft. „Man kennt hier einfach sehr viele Menschen, man grüßt sich und hilft sich gegenseitig“, zählt Monika Bittner auf. „Tratsch und Gerede gibt es natürlich auch, aber man hat schon seine Rückzugsmöglichkeiten und weil man die Leute kennt, kann man sie auch gut einschätzen.“

In Batzhausen gibt es keinen Supermarkt, aber einen Bäcker samt Café, einen Metzger mit Restaurant und, da das Dorf direkt an der Zugstrecke zwischen Nürnberg und Regensburg liegt, auch einen eigenen Bahnhof. Von dort aus fährt Moritz mit dem Zug in die zehn Kilometer entfernte Realschule. Sein kleiner Bruder nimmt für die vier Kilometer bis zur Grundschule den Schulbus.

Meistens klappt der Schulweg bei beiden gut. Wenn Bus oder Bahn mal ausfallen, sind die weiten Wege aber durchaus nervig. Und zu Freunden aus der Schulklasse kann Moritz auch nicht einfach mit dem Fahrrad fahren. „Ich bin schon viel als Elterntaxi im Einsatz“, erzählt Monika Bittner. „Aber wir organisieren auch oft über WhatsApp-Gruppen Fahrgemeinschaften, wenn die Kinder irgendwo hingefahren oder abgeholt werden müssen.“  Zwei Autos braucht die Familie vor allem deshalb, weil beide Eltern beruflich mobil sein müssen.

Aktiv bei Feuerwehr und Ministranten

Viel von ihrer Freizeit verbringen die Bittners dagegen durchaus im Dorf. Papa Norbert fährt gerne Mountainbike. Moritz und Georg spielen Tennis im örtlichen Sportverein, sind in der Freiwilligen Feuerwehr aktiv und Moritz ist Ministrant. Außerdem klingeln nachmittags oft spontan Nachbarskinder und dann sind alle gemeinsam unterwegs – ältere und jüngere zusammen. Ob Moritz andere Hobbies hätte, wenn es mehr Auswahl vor Ort gäbe? Der Zwölfjährige zuckt mit den Schultern: „Keine Ahnung. Mir gefällt das, was ich mache. Ich hab nicht das Gefühl, dass mir was fehlt.“ Seine Mutter sieht das ähnlich: „Egal wo man wohnt – es gibt überall Vor- und Nachteile. Wir fühlen uns jedenfalls sehr wohl im Dorf. Das passt einfach zu uns.“

Auch Kathrin (41) und Willi Rudolph (36) wollten vor fünf Jahren mit ihren beiden Kindern aufs Land ziehen. Ein Grundstück hatten sie schon gekauft. Sogar der Bauplan für das Haus stand. „Aber dann ist mir klar geworden, dass ich in unserer Wohnung mitten in Nürnberg eigentlich glücklich bin und im Moment gar nichts ändern will“, erklärt Kathrin Rudolph. Also sind sie in ihrer Drei-Zimmer-Wohnung mit Balkon direkt am Nürnberger Plärrer geblieben, in der sie auch zu zweit schon gewohnt haben.

Mit dem neunjährigen Kalle und dem sechsjährigen Matti sind sie mittlerweile zu viert. „Früher hatten wir die Zimmer eingeteilt in Schlafzimmer, großes Wohnzimmer und kleines Gästezimmer. Jetzt ist der große Raum das Kinderzimmer und das Wohnzimmer eben nur noch ganz klein“, erzählt Willi Rudolph. Wenig Raum zu haben, stört die Familie nicht. Auch ein Garten fehlt ihnen nicht wirklich. „Wenn wir Freunde auf dem Land besuchen, beneide ich sie schon manchmal um den Platz zum Toben für die Kinder, aber wir sind eben viel auf Spielplätzen oder in Parks unterwegs“, sagt Mama Kathrin. Und es gibt einen versteckten Hof hinter dem Haus, in dem es im Sommer so gemütlich ist wie im eigenen Garten: Eine Kastanie und ein Walnussbaum werfen Schatten, in einem Hochbeet wächst Gemüse und in der Werkstatt ist Platz für Willi Rudolphs Motorräder.

Mit dem Straßenverkehr umgehen lernen

Mattis Kindergarten und Kalles Grundschule sind zu Fuß erreichbar, Einkaufsmöglichkeiten, Kneipen und Restaurants ebenfalls. Zu vielen anderen Freizeitbeschäftigungen können die Rudolphs problemlos mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren. „Ich brauche ein Auto, weil ich außerhalb von Nürnberg arbeite“, erklärt Willi Rudolph. „Aber einige von unseren Freunden und Bekannten können tatsächlich komplett auf ein Auto verzichten.“

Trotzdem ist in der Stadt natürlich viel Verkehr – was viele Eltern als Gefahr für ihre Kinder wahrnehmen. Auch die Rudolphs sind sich dessen bewusst: „Aber die Kinder lernen, mit den Gefahren im Straßenverkehr umzugehen, wenn das zu ihrem Alltag gehört“, meint Mama Kathrin. Auch mit manch anderen Problemen werden Kinder in der Stadt schneller konfrontiert als auf dem Land – etwa, wenn sie obdachlose oder suchtkranke Menschen auf der Straße sehen. Kathrin Rudolph versucht dann, möglichst kindgerecht zu erklären, was mit den Menschen los ist. Eigentlich findet sie es sogar ganz gut, wenn Kinder auch gesellschaftliche Probleme kennenlernen. „Als wirklich bereichernd empfinde ich es, dass in der Großstadt eine Vielfalt an Lebensentwürfen anzutreffen ist“, ergänzt die 41-Jährige. Dass ein Kind zum Beispiel mit zwei Müttern aufwächst, sei für ihre Kinder eben normaler Alltag und nicht nur eine Idee in einem Bilderbuch. Die Entscheidung, doch nicht aufs Land zu ziehen, haben die Rudolphs jedenfalls noch nie bereut: „Wir sind sehr zufrieden, wo wir leben“, sind sich beide Eltern einig.

Zwei Familien, zwei ganz unterschiedliche Wohnorte – und doch ist jede glücklich mit ihrem Umfeld. Für Familientherapeutin Cornelia Stöckel ist das nicht weiter erstaunlich: „Man kann nicht generell sagen, dass Kinder auf dem Land oder in der Stadt besser aufwachsen. Es gibt überall Bereiche, die gut für Kinder geeignet sind.“ Sie selbst lebt in Graz, ist mit ihrer Familie drei Mal umgezogen und berät Eltern unter anderem, wenn ein Umzug ansteht. Ihre Erfahrung: „Wo sich Menschen wohlfühlen, ist Typsache und hängt oft mit ihren bisherigen Lebenserfahrungen zusammen.“

Die Entscheidung ist Typsache

Ein wichtiger Faktor für das eigene Wohlfühlen ist der soziale Anschluss, das Gefühl, Freunde vor Ort zu haben und vernetzt zu sein. Das empfinden sowohl die Bittners als auch die Rudolphs so. Und obwohl die beiden Familien in ganz verschiedenen Umgebungen leben, sind sie sich einig darin, wie die Vernetzung vor Ort gelingt: Man muss offen sein und auf Menschen zugehen.

Vor allem mit dem Leben in der Großstadt ist oft die Angst vor Anonymität verbunden. „Aber gerade hier stehen die Chancen gut, Gleichgesinnte kennenzulernen“, sagt Willi Rudolph. Man habe eine breite Auswahl an Vereinen, bei denen man Menschen finde, die das gleiche Hobby haben. „Und über Kita und Kindergarten lernt man schnell andere Eltern kennen.“

Im Dorf dagegen ist man eher gezwungen, auch mit Menschen klar zu kommen, die nicht der eigenen Blase entsprechen. „Gerade das kann aber auch eine Chance sein“, meint Monika Bittner. Ihr Rat für Menschen, die neu in ein Dorf ziehen: „Die Leute freundlich grüßen, Interesse am anderen zeigen und auch mal etwas mitmachen, das man vorher noch nicht gekannt hat.“

Glückliche Eltern, glückliche Kinder

Und auch in einem weiteren Punkt sind die beiden Familien sich einig: Egal, ob man im Dorf oder in der Stadt lebt – man muss auf die Vorteile des jeweils anderen nicht komplett verzichten. Rudolphs etwa machen gerne Ausflüge ins Grüne und bauen Gemüse im Hinterhof an, damit ihre Kinder auch Natur erleben können. Umgekehrt fahren Bittners eben in die nächste Stadt, wenn sie Lust auf einen Restaurantbesuch, ein Konzert oder Sportereignis haben. „Man kann durchaus beides haben“, ist Kathrin Rudolph überzeugt. Nur als Wohnort muss man sich für ein Umfeld entscheiden.

Eltern, die dabei noch auf der Suche sind, legt Therapeutin Cornelia Stöckel vor allem eine Überlegung ans Herz: „Wichtig ist, dass die Eltern sich an dem Ort wohlfühlen und so wenig wie möglich gestresst sind.“ Es nützt nichts, wenn man theoretisch in idyllischer Natur lebt, aber durch die tägliche Arbeitspendelei abends so gestresst nach Hause kommt, dass man das tolle Umfeld nicht mit den Kindern genießen kann. Andersherum spüren Kinder es auch, wenn die Eltern von Hektik, Lärm und Enge in der Stadt genervt sind. „Vor allem für kleinere Kinder ist es dort am schönsten, wo sie entspannte und zufriedene Eltern erleben“, betont die Familientherapeutin.

Georg Bittner, der Achtjährige aus Batzhausen, würde ihr wahrscheinlich recht geben. Denn wenn seine Mama ihn fragt, was ihm am Dorfleben gefällt, muss er nur ganz kurz nachdenken, bevor er sagt: „Es ist schön hier, weil ich mit euch zusammen bin.“


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