Damals und heute

Freiraum für Freundschaft

Stefanie Kortmann war früher nachmittags mit anderen Kindern im Dorf unterwegs. Alleine natürlich, ohne Eltern. Bei ihrer Tochter ist das heute anders. Verabredungen werden lange im Voraus geplant. Das Handy übernimmt die Überwachung. Muss das sein?

veröffentlicht am 01.06.2023

Der Leiter unserer Grundschule meinte es sicher gut und hat umsortiert: Für die Zusammensetzung der ersten Klassen ist seit letztem Sommer nicht mehr der Wohnort der Kinder entscheidend, sondern die Frage, welchen Kindergarten die I-Männchen zuvor besucht haben. „Toll!“ sagt mir eine stets besorgte Mutter. „Dann bleiben die Freundschaften aus der Kita ja erhalten.“ Ich bin skeptisch. Nach meinen Erfahrungen sortieren sich mit dem Schulstart diese freundschaftlichen Verbindungen sehr schnell neu. Geht es nicht mehr darum, dass sich die Kleinen, die ja größer werden, auch alleine besuchen können? So entsteht ein Freundschaftsnetz und so verliefen in unserem 3.000-Seelen-Dorf auch unsere ersten Schritte in die Selbstständigkeit.

Nach Hause, wenn die Kirchturmuhr läutet

Damals war dieses Dorf unsere Welt, in der wir uns frei bewegen konnten. Wir erkundeten mit den BMX-Rädern die Gassen, spielten am Bach und fuhren im Winter mit dem Schlitten den Steinbruch herunter. Unsere Eltern waren nie dabei – warum auch? Wir Kinder hatten ja uns. Nachmittags trafen wir uns auf der Straße und zogen los. Nach Hause ging es nur, wenn uns der Durst überkam oder die Kirchturmuhr sechs Uhr läutete. Manchmal fragte die Mutter „Wo jachtert ihr wieder rum?“, aber die Antwort interessierte sie nicht wirklich. Sie machte den Haushalt und war jeden Tag daheim, so wie jede Mutter.

Das alles ist Jahrzehnte her. Das Dorf ist geblieben, aber die Kindheit hat sich verändert. Dass die Kinder heute vor die Tür gehen und die Eltern nicht wissen, wo genau sie hingehen und mit wem sie sich dort aufhalten, ist ein Moment, der nicht mehr vorkommt. Tage im Voraus werden mit den Arbeitszeiten abgestimmte Spiele-Verabredungen getroffen. Der nächste freie Termin? Nächste Woche Montag. Nein, nicht für die Konferenz, für die Neunjährige – zum Spielen!

Alleine rumstreunen ist nicht mehr vorgesehen

Zeiten zum Rumstreunen – für die Kinder ist das nicht mehr vorgesehen, weil wir Eltern im Hintergrund eben nicht mehr permanent zu Hause sind und weil wir wissen wollen, wo und wie der Sohn oder die Tochter nächste Woche Montag betreut ist. Zudem ist es für viele Erwachsenen komplett unvorstellbar, den Nachwuchs nicht per Knopfdruck erreichen zu können. Smart-Watches und Handys ersetzen die Nabelschnur, die nicht reißen darf, auch wenn das Kind im Grunde absolut überlebensfähig ist. Die Generation unserer Eltern tickte da anders. Sie waren wesentlich gelassener, ließen uns unsere kurzen Wege ziehen und vertrauten uns – ein Umstand, den ich heute als Glücksfall empfinde und in den Ansätzen unbedingt übernehmen möchte. Selbstständigkeit lernt ein Kind nur vom selber machen. Und ist es nicht der Sinn unserer Erziehung, die Kleinen auf die eigenen Beine zu stellen?

„Mama, darf ich mit dem Rad zur Freundin?“ fragt die Neunjährige und steht schon mit einem Bein in der Tür. Ich schlucke kurz, mahne zur Vorsicht im Verkehr, wünsche viel Spaß und lasse sie ziehen. Sie wird schon wieder kommen. Spätestens wenn sie Durst hat oder Kirchturmuhr läutet.


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