Zahlenspiele

Von der Vermessung unserer Welt

Schwangerschaft, Geburt, Heranwachsen und nun die Schule: Stefanie Kortmann hat das Gefühl, ihr Leben und das ihrer Tochter wird von Zahlen bestimmt. Das gefällt ihr nicht. Aber sich davon zu lösen, ist nicht einfach.

veröffentlicht am 16.11.2022

Meine Tochter war noch nicht geboren, da bestimmten schon Zahlen und Messwerte unser beider Leben: Wie groß ist das Baby? Stimmen die Parameter in der Blutuntersuchung? Welche Werte liefert der Zuckertest? Und so weiter.

Viele Zahlen waren im erwünschten Durchschnitt, aber eben nicht alle. Immer dann stellten sich blitzartig die gleichen Fragen. Ist die Abweichung noch okay oder ist der Anflug von Sorge und Angst berechtigt? Zahlen können erleichternd sein, wenn sie das erwartete Wachstum des Babys bestätigen. Zahlen können aber auch eine Qual sein, wenn mit ihnen ein Raum für Spekulationen entsteht.

Termine sind einzuhalten

Der sorgsam errechnete Termin für die Geburt verstrich und je mehr Tage vergingen, desto nervöse wurde mein Umfeld. Irgendwann war die Geduld vorüber, Liefertermine sind schließlich einzuhalten. Es folgte der Klassiker: die lange Phase der Einleitung und schließlich, angeblich unumgänglich, das Finale mit einem Kaiserschnitt. Willkommen im Leben.

So ein kleines Wesen hat zum Glück wenig Ahnung von den vielen Normwerten unserer modernen Erwachsenenwelt. Schlafen, Essen und später das Spielen – der Stundenplan der ersten Lebensjahre ist übersichtlich und das ist auch gut so. Es ist die Zeit zum Ankommen, Zeit für die vielfach beschriebene unbeschwerte Kindheit. Leider ist diese Zeit gefühlt nun zu Ende.

Es war der erste Elternabend in der dritten Klasse. Die Notengebung war DAS Thema. Lange wurden wir darüber informiert, wie die Kinder ab sofort in ihren Leistungen beurteilt werden. Ich fühlte mich unwohl. Gerade noch war meine Tochter Teil einer homogenen Masse spielender Kinder. Ab sofort, so war mir klar, wird aus dieser Masse ein Oben und ein Unten gebildet, von sehr gut bis ungenügend. Und ab sofort bekommt der Antrieb der Kinder, von sich aus etwas lernen zu wollen, einen stillen Wegbegleiter: das Notensystem und damit verbunden, den Wunsch gute Noten zu schreiben, oder, anders betrachtet, schlechte Noten zu vermeiden.

Noten sagen nichts über den Wert eines Menschen

Zu Hause redeten wir über diese Neuerungen. Ich erklärte, dass die nun kommenden Zeugnisse Einfluss auf die spätere Schulwahl haben werden. Und dass eine Note niemals etwas über den Wert eines Menschen aussagt. Und dass meine Tochter einfach weiterhin so neugierig bleiben soll, der Rest erledigt sich von alleine. Hoffentlich.

Schließlich zeigte ich ihr meine Schulzeugnisse. Wir blätterten durch den Ordner und fanden neben merkwürdigen Fächern wie mündlicher Sprachgebrauch und Textilgestaltung von eins bis vier jede Note. Ich war keine Überfliegerin und sie muss das auch nicht sein. Zahlen in Form von Noten mögen in unserem Schulsystem wichtig sein, aber ich will darauf achten, dass ihre Bedeutung keine Überhand gewinnt, im Gegenteil: Unser Leben darf und soll in Teilen unberechenbar sein. Es ist ein kleiner, vielleicht auch verzweifelter Versuch, der Macht der Zahlen nicht alles zu opfern.


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