Interview

„Religiöse Erziehung beginnt von Geburt an“

Immer wieder Angebote machen und mit den Kindern gemeinsam als Familie den Glauben als Bereicherung erleben – das ist für Eltern durchaus eine Herausforderung. Wie sie ohne Druck gemeistert werden kann, erklärt Religionspädagogin Helena Stockinger.

veröffentlicht am 01.09.2023

Wie gläubig müssen Eltern sein, um ihr Kind religiös zu erziehen?
Ein wesentlicher Aspekt von religiöser Erziehung beziehungsweise religiöser Bildung ist, dass man Kinder ermuntert und ermutigt, Fragen zu stellen, und gemeinsam diesen Fragen nachgeht. Das kann unabhängig von der Gläubigkeit der Eltern geschehen, solange diese religiösen Fragestellungen gegenüber offen sind. Wenn Eltern allerdings den Anspruch haben, religiöse Traditionen zu vermitteln, also beispielsweise miteinander zu beten, den Gottesdienst zu besuchen, religiöse Lieder zu singen, dann ist es von Vorteil, wenn für die Eltern selbst die jeweilige Tradition bedeutend ist. Denn Kinder merken sehr schnell, ob die Eltern ihnen etwas vorspielen oder ob es ihnen wirklich wichtig ist.

Haben Sie das Gefühl, dass sich in den letzten Jahren Eltern schwerer damit tun, ihren Kindern im Familien­alltag religiöse Impulse mitzugeben?
Eine pauschale Antwort zu geben, fällt da schwer, da das stark von den einzelnen Familien abhängt. Aber natürlich gibt es Tendenzen, dass religiöse Traditionen in Familien abnehmen, weil viele Eltern diese selbst nicht mehr so intensiv erlebt haben und sich von diesen distanzieren. Wenn die Bedeutung von Religion in Familien abnimmt, nimmt natürlich auch das Interesse ab, für Kinder religiöse Impulse zu setzen.

Religiöse Erziehung: Was bedeutet das überhaupt? Was umfasst dieser Begriff?
Viele Jahrhunderte lang war mit religiöser Erziehung ein stark moralisierendes, normatives Modell verbunden. Es wurde dabei versucht, den Kindern ein striktes Katechismuswissen weiterzugeben und ihnen die eigene Gläubigkeit überzustülpen. Davon distanziert man sich heute klar in der Religionspädagogik. Religiöse Erziehung heute läuft viel offener – unter Berücksichtigung der Freiheit und der Mündigkeit von Kindern und Jugendlichen. Man orientiert sich stärker am Kind, was dieses möchte und selbst einbringen kann und wie es bestmöglich gefördert werden kann. Eltern eröffnen ihrem Kind Möglichkeiten, die Welt religiös zu deuten und religiöse Traditionen kennenzulernen. Aber das Kind handelt aktiv, es setzt sich selbst mit Situationen und Rahmenbedingungen auseinander. In diesem Prozess können auch Eltern von Kindern lernen.

Ab welchem Alter beginnt religiöse Erziehung?
Wenn man religiöse Erziehung weit fasst, beginnt sie, sobald das Kind auf der Welt ist. Denn eine Grundlage religiöser Erziehung ist, dass das Kind erfährt, bedingungslos geliebt und von Anfang an willkommen zu sein. Zudem wächst das Kind ab der Geburt in die religiösen Traditionen der Familie mit hinein. Es erlebt, wie in der Familie gelebt, gelacht, gefeiert und gestritten wird. All das ist ebenso Teil religiöser Bildung. Zusätzlich hinzu können konkrete Rituale kommen, die je nach Alter des Kindes anders aussehen können: das Gebet mit den Kindern, das Lesen von biblischen Texten vor dem Schlafengehen, das Feiern von Festen in einer gewissen ritualisierten Form.

Wie wichtig ist der Sonntagsgottesdienst für die religiöse Erziehung?
Kinder sind sehr unterschiedlich, wie gern oder ungern sie in den Gottesdienst gehen. Generell gilt bei der religiösen Erziehung: Alles, was mit Zwang zu tun hat, ist problematisch. Hier können sich Eltern immer wieder die Frage stellen: Bringt es meinem Kind etwas, in den normalen Gottesdienst zu gehen, oder weicht man vielleicht lieber auf Kindergottesdienste aus, die speziell auf die Bedürfnisse von Kindern eingehen? Bei beiden Formen ist man als Eltern aber auch gefordert, das Erlebte im Anschluss mit den Kindern noch einmal Revue passieren zu lassen. Was war vielleicht irritierend, was war schön, was wünschen sich die Kinder? Entscheidend ist also, mit den Kindern im Gespräch zu bleiben, auch wenn sie nicht in den Gottesdienst gehen wollen. Dann empfiehlt es sich, gemeinsam mit ihnen nach Lösungen und Alternativen zu suchen.

Warum muss ich als Mama oder Papa überhaupt aktiv im Alltag religiöse Impulse setzen? Reicht es nicht, wenn Kindergarten oder Schule diesen Part übernehmen?
Hier stellt sich die Frage, was Eltern von einem Kindergarten oder einer Schule erwarten und was diese leisten können. Aufgabe von Bildungseinrichtungen ist es, Kindern eine Auseinandersetzung mit religiösen Bildungsinhalten zu ermöglichen, aber nicht, sie in eine bestimmte religiöse Tradition einzuführen. Im Kontext von religiöser Erziehung sind Familien und Pfarrgemeinden die ersten Orte, an denen Kinder ihren Glauben entwickeln können.

Was mache ich, wenn mein eigenes Glaubenswissen nicht ausreicht und ich Fragen meines Kindes nicht beantworten kann?
Hier kann es hilfreich sein, gemeinsam mit dem Kind diesen Fragen nachzugehen. Eltern können ehrlich sagen, dass sie darauf gerade keine endgültige Antwort haben, und gemeinsam mit dem Kind über bestimmte Fragen theologisieren. Für Kinder ist es wichtig, zu merken, dass nicht alle Fragen immer klar und abschließend beantwortet werden können, dass man bei manchen Fragen ein Leben lang um Antworten ringt. Auch das gehört zur religiösen Bildung und Erziehung dazu.

Und was mache ich, wenn mein Kind überhaupt kein Interesse an Geschichten aus der Kinderbibel zeigt, nicht zum Kindergottesdienst möchte und auch die Tischgebete boykottiert?
Einfach immer wieder Möglichkeiten eröffnen, aber keinen Druck ausüben. Gerade bei Religiosität geht es um Entscheidungsfreiheit und um das Entwickeln einer eigenen Position. Dies umfasst, Angebote zu machen, aber auch zu akzeptieren, dass das Kind nicht alles sofort mag oder gleich freudig mitmacht.

Wieso lohnt es sich, dranzubleiben? Was gewinnen Kinder durch eine religiöse Erziehung?
Sie gewinnen eine andere Perspektive auf die Welt und lernen eine religiöse Deutung kennen. Durch religiöse Bildung lernen sie auch, Fragen zu stellen und Antworten zu bekommen, die ihnen bei manchen Themen Sicherheit geben können. Wenn Kinder von klein auf religiöse Traditionen kennenlernen, können sie sich später besser dazu verhalten und reflektieren, was ihnen davon selbst wichtig ist und was sie davon für ihr weiteres Leben übernehmen möchten.

Helena Stockinger

Helena Stockinger ist Professorin für Katechetik, Religionspädagogik und Pädagogik an der Katholischen Privat-Universität Linz. Davor hatte sie für einige Jahre den Lehrstuhl für Religionspädagogik und Didaktik des Religionsunterrichts an der LMU München inne. Ihre Forschungs- und Publikationsschwerpunkte liegen im Bereich des Umgangs mit Vielfalt in Bildungseinrichtungen, der  Bildungsgerechtigkeit und der Kindheitsforschung.


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