Coming-out

Mama, ich bin schwul! Ein Sohn und seine Mutter erzählen

Mit 14 outete sich Ben Türk bei seinen Eltern. Diese reagierten gelassen, ebenso wie seine Freunde. Heute, sieben Jahre später, erzählen Mutter und Sohn, wie sie die Situation damals erlebt haben und wie es ihnen heute mit dem Thema geht.

veröffentlicht am 25.01.2022

Das Outing kam per SMS. Ben, damals 14 Jahre alt, verbrachte mit seinen Großeltern die Osterferien auf den Kanarischen Inseln. Mutter Susanne war zuhause und las auf dem Handy die Nachricht ihres Sohnes: Ich habe mich in XY verliebt. Der junge Mann, dessen Name hier keine Rolle spielt, war der Mutter gut bekannt. Ihre Antwort an Ben: Das habe ich mir schon gedacht.

Ben, 21, und Susanne Türk, 50, beide blond und mit markanter Brille, sitzen für das Gespräch in Bens Zimmer vor dem Bildschirm. Hinter ihnen an der Wand hängt ein großes Bild von Schäferhund Vanya als Welpe, fotografiert von Ben. Die Familie lebt in einer Gemeinde im Landkreis Neumarkt in der Oberpfalz. Ben studiert Energieprozesstechnik im nahegelegenen Nürnberg. In seiner Freizeit schraubt er an Computern oder fährt, wenn er Zeit hat, für das Bayerische Rote Kreuz Krankenwagen. Seine Mutter ist Erziehungswissenschaftlerin und arbeitet bei einem kirchlichen Wohlfahrtsverband.

„Für Ben der richtige Weg“

Für Susanne Türk und ihren Mann war die Mitteilung ihres Sohnes damals die „Bestätigung eines gefühlten Wissens“, erzählt sie. Der junge Mann, um den es ging, sei schon vorher in der Familie als guter Bekannter, als Kumpel von Ben präsent gewesen. Ihr Bauchgefühl habe ihr gesagt, dass da mehr war. „Es war keine Überraschung, kein Schock, kein Aus-allen-Wolken-Fallen“, berichtet die Mutter. Sie habe es auch gut annehmen können, dass Ben sich ihr aus der Distanz heraus anvertraut habe. „Das war für mich gefühlt für Ben der richtige Weg.“

Ben nickt zustimmend. Seine Mutter und er hätten ein relativ offenes Verhältnis. Er habe keine Lust gehabt, etwas zu verheimlichen, habe seine sexuelle Orientierung offen ansprechen und ausleben wollen. „Es war also nur die Frage, wie und wann“, erzählt er. „Und dann habe ich das eben in diesem Urlaub geklärt.“

So einfach, wie sich das heute im Rückblick anhört, war die Situation für Ben damals allerdings nicht. „Ich hatte schon Sorge, ganz deutlich“, erinnert er sich. Vielleicht habe er seiner Mutter auch deshalb aus der Entfernung geschrieben. Auch in der Schule überlegte er genau, wem er „es“ erzählte, wem er sich anvertrauen konnte. Als er merkte, dass sein Umfeld sehr entspannt mit dem Thema umging, traute er sich, auf Facebook seinen Beziehungsstatus auf öffentlich zu schalten. Damit war das Outing quasi offiziell. Und offenbar für alle völlig okay. „Ich bin nicht auf Gegenwind gestoßen, nirgends“, sagt Ben.

Die Großmutter war zunächst überfordert

Nur die Geschichte mit der Oma – die ging ihm lange nach. Ben, der evangelisch getauft ist, hatte sich gegen die Konfirmation, aber für eine humanistische Jugendfeier entschieden. Weil er bei dem Fest seinen damaligen Freund, den Jungen aus der SMS, dabeihaben wollte, hatte er auch seine Großmutter über die Beziehung informiert. Am Tag der Feier, berichtet Ben, habe sie zu ihm gesagt, er solle bitte sein Leben nicht wegschmeißen. „Das war unangenehm, das ging mir sehr nah, das tat ganz schön weh“, erzählt Ben. Auch Susanne Türk kann sich gut daran erinnern, wie sehr ihr Sohn unter dieser Reaktion gelitten und diese die ganze Jugendfeier überschattet hat.

Inzwischen, und das ist die positive Seite der Geschichte, ist das Verhältnis zwischen Oma und Enkel wieder bestens. „Sie hat das inzwischen revidiert, sie hat sich entschuldigt, relativ schnell danach“, sagt Ben. „Ich glaube, es war nicht ihre Schuld. Sie hatte im Internet auf Konversionstherapie-Seiten gelesen, wie furchtbar das ist und dass man das alles noch geradebiegen kann. Sie war da einfach in die falschen Hände geraten.“ Auch Susanne Türk hat bei ihrer Mutter eine Entwicklung beobachtet. Die Seniorin, eine ehemalige Lehrerin, sei zunächst mit einem gewissen Argwohn an das Thema herangegangen, habe Homosexualität als eine Art Modererscheinung oder Medienphänomen bewertet. Heute wisse sie mehr darüber und sei offener. „Sie hat viel gelernt in dieser Zeit.“

Porträt Ben und Susanne Türk

Etwa 85 Prozent der Personen in Deutschland identifizieren sich laut der ElitePartner-Studie 2020 als heterosexuell. Vier Prozent der Befragten gaben auf die Frage nach ihrer sexuellen Orientierung an, homosexuell zu sein. Etwa acht Prozent machten keine Angabe. Zugleich sind Homophobie und Diskriminierung wegen der sexuellen Orientierung in der Gesellschaft weit verbreitet. Besonders betroffen sind junge Menschen. Das zeigt die Studie „Gesundheit und Sexualität in Deutschland“ der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung aus dem Jahr 2020. In den Befragungen gab jede fünfte lesbische, bi- und asexuelle Frau im Alter zwischen 18 und 35 Jahren an, bereits Erfahrungen mit Diskriminierungen aufgrund der sexuellen Identität gemacht zu haben. Bei homosexuellen, bi- und asexuellen Männern im Alter zwischen 18 und 35 Jahren waren es 63 Prozent. In Österreich gaben in der Sora-Studie zu „Diskriminierungserfahrungen in Österreich“ 73 Prozent der schwulen, lesbischen oder bisexuellen Befragten an, in den letzten drei Jahren Diskriminierung erlebt zu haben.

Viele Jugendliche haben Angst, sich zu outen

Auch Elena Winter vom Jugendberatungszentrum diversity in München (Interview mit Elena Winter über Reaktionen von Eltern nach dem Outing ihrer Kinder) kennt die Vorbehalte gegenüber jungen homosexuellen und auch transidentischen oder nichtbinären Menschen. Auch Eltern gingen sehr unterschiedlich mit dem Outing ihrer Kinder um. Die Reaktionen reichten von Akzeptanz über Ignorieren oder Unverständnis bis hin zu offener Ablehnung. „Viele Jugendliche haben große Angst davor, sich vor der Familie oder den Eltern zu outen“, sagt die Sozialpädagogin.

Mutter und Sohn Türk arbeiten, um ihre Erfahrungen weiterzugeben und andere Eltern und queere junge Menschen zu unterstützen, inzwischen im Queeren Zentrum des Vereins Fliederlich in Nürnberg mit. Susanne Türk ist Mitglied einer Elterngruppe und führt telefonische Beratungsgespräche mit Müttern und Vätern, deren Kinder sich als schwul, lesbisch, trans oder nonbinär geoutet haben. Ihre Aufgabe sieht sie vor allem darin, die Eltern reden zu lassen, zu hören, welche Fragen sie haben, wo Sorgen, Nöte und Probleme sind. Auch Pädagogen und Pädagoginnen suchen Rat, die in der Schule oder in der Jugendhilfe Kontakt mit verzweifelten Jugendlichen haben, die zuhause keinen Rückhalt finden oder gar von den Eltern auf die Straße gesetzt wurden. Ben sieht sich als sogenannter Teamer einer Jugendgruppe des Vereins ebenfalls vor allem in der Rolle des Zuhörers. „Ich habe die Erfahrung gemacht, wenn ich ein Problem habe und einfach nur darüber reden kann, dann löst das so viele Probleme, weil ich schon mal reflektiere. Diese Reflektion ist sehr hilfreich.“

Dass es das Zentrum, die Gruppen, dass es Aufklärung und Beratungsmöglichkeiten gibt, halten Mutter und Sohn für gut und wichtig. Viel lieber wäre es ihnen allerdings, wenn es alle diese Angebote gar nicht mehr bräuchte. Wenn queere Jugendliche und deren Eltern sich nicht mehr in Selbsthilfegruppen treffen müssten. Wenn queere Personen keine Angst vor Anfeindungen und Übergriffen mehr zu haben bräuchten.

Der Wunsch der Mutter für ihren Sohn: „Hauptsache glücklich“

Die beiden sind überzeugt: Die Gesellschaft ist auf einem guten Weg. Aber es gibt auch noch Einiges zu tun. Sorgen bereitet Susanne Türk vor allem die Entwicklung in den letzten ein, zwei Jahren. „Ich beobachte mit großer Sorge den Rechtsruck in der Gesellschaft, den wir erleben, auch verstärkt durch die Corona-Pandemie“, sagt sie. „Ich merke, dass meine Beklemmungen wachsen, weil die Anzahl der Übergriffe auf queere Menschen zunimmt.“ Als Mutter eines queeren Kindes stelle sie fest, „dass es mir jedes Mal ins Herz schneidet“, wenn sie von Übergriffen oder Attentaten, zum Beispiel auf Schwulenclubs, höre. Die Angst, ihrem Sohn könne etwas passieren, wenn er sich offen mit einem gleichgeschlechtlichen Partner zeigt, diese Angst sei da.

Die Beziehung zwischen Ben und seinem ersten Freund dauerte ein halbes Jahr. Inzwischen definiert sich der Student nicht mehr als schwul, sondern als pansexuell. Zuletzt war er mit einer nichtbinären Person zusammen. „Pan heißt alles. Für mich ist es nicht wichtig, welche Geschlechtsidentität, welche physikalischen Geschlechtsteile ein Mensch hat“, erklärt der Student. „Ich verliebe mich in einen Menschen, nicht in ein Geschlecht.“ Später, in 20 Jahren vielleicht, möchte Ben in einer Beziehung leben, möchte „eine Person“ an seiner Seite haben. Er hätte gerne Kinder, „nicht zu wenige“, sagt er und grinst hinüber zu seiner Mutter. Und was wünscht die sich für ihren Sohn? „Ich sage immer, Hauptsache glücklich“, schmunzelt Susanne Türk. „Ich würde mich riesig über Enkelkinder freuen.“

Einen großen Wunsch und eine Hoffnung hat sie zudem für die ganze Gesellschaft: dass Menschen anders sein können als die vermeintliche Normalität, dass alle Menschen die Möglichkeit haben, so zu leben und zu lieben, wie es ihnen entspricht. Und so glücklich zu werden.

Queer, LGBTQ*: Was ist was?

Die Abkürzung LGBTQ (lesbian, gay, bisexual, transgender, queer) oder auch LSBTQ (lesbisch, schwul, bisexuell, transgeschlechtlich oder transident, queer) steht für lesbische, schwule, bisexuelle und transgeschlechtliche Personen. Queer meint Personen, die nicht von Geburt an einem bestimmten Geschlecht zugehörig oder heterosexuell sind. Oft werden weitere Buchstaben oder Zeichen an die Abkürzung angehängt. Das I bedeutet intersexuell. Ein + oder * steht für weitere sexuelle Orientierungen und Geschlechtsidentitäten.

Das Wort queer wird inzwischen oft als Überbegriff für alle sexuellen Orientierungen und geschlechtlichen Identifizierungen verwendet, die nicht der gesellschaftlichen Norm der Heterosexualität oder dem Prinzip der Geschlechtsbinarität entsprechen.

Kirche und Homosexualität

Im Verhältnis der katholischen Kirche zur Homosexualität hat sich in den vergangenen Jahren einiges verändert. Dennoch bleibt es schwierig. Laut Katechismus (1997) Nr. 2357 leben gleichgeschlechtliche Paare „in Sünde“ und dürfen die Kommunion nicht empfangen. Es mehren sich jedoch Stimmen von Theologen und Theologinnen sowie kirchlichen Amtsträgern, die diese Position hinterfragen.

Anfang vergangenen Jahres sorgte ein Schreiben des Papstes, das die Segnung homosexueller Paare verbot, für einen Aufschrei unter Gläubigen und kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Seelsorgerinnen und Seelsorger setzten sich über das Verbot hinweg, Initiativen und Verbände (siehe beispielsweise die „Argumentationshilfe zum Umgang mit der katholischen Sexuallehre“ des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend)forderten eine Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften als Liebesbeziehung und damit auch die Möglichkeit einer Segnung.

Vor wenigen Tagen outeten sich in einer konzertierten Aktion 125 queere Menschen, die haupt- nebenamtlich in der katholischen Kirche tätig sind.

Beratung und Selbsthilfegruppen für Eltern queerer Kinder


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