Intensivpädagogik

Offener Schutzraum: So viel Geschlossenheit wie nötig, so viel Freiheit wie möglich

Sieben Wohngruppen befinden sich auf dem Gelände des Jugendhilfezentrums Don Bosco Sannerz. Eine davon ist die Gruppe Murialdo, eine geschlossene Unterbringung für Kinder zwischen zehn und 15 Jahren.

veröffentlicht am 20.02.2024

Katrin Löffert liebt Herausforderungen. Ihre Stärke liegt darin, Kindern und Jugendlichen mit viel Fingerspitzengefühl zu begegnen, aber trotzdem klar und bestimmt aufzutreten. Und genau das tut sie seit fast zwölf Jahren in der Wohngruppe Murialdo im Jugendhilfezentrum Don Bosco Sannerz. Das Besondere daran: Diese intensivpädagogisch-therapeutische Gruppe ist die einzige geschlossene Unterbringung für Kinder in Hessen. Als sie im Oktober 2012 eröffnet wurde, gab es viele kritische Stimmen. „Einige haben uns als Kinderknast bezeichnet“, berichtet die 38-jährige Sozialarbeiterin. „Denn unsere Gruppe war anfangs vor allem für delinquente Kinder gedacht, also Kinder, die zwar noch strafunmündig sind, aber bereits durch Diebstahl oder Körperverletzung aufgefallen sind.“

Damals war es der Wunsch der hessischen Landesregierung, eine solche Wohngruppe ins Leben zu rufen. Don Bosco Sannerz entwickelte daraufhin ein passendes pädagogisches Angebot. „Für uns gab es dafür zwei Argumente“, erklärt Einrichtungsleiter Patrick Will. „Zum einen engagierte sich schon Don Bosco als Jugendseelsorger in den Turiner Gefängnissen und wollte straffällig gewordenen Jugendlichen neue Perspektiven eröffnen. Zum anderen können wir in Sannerz generell – nicht nur in Murialdo – sehr gut mit herausfordernden jungen Menschen arbeiten. Darin haben wir Erfahrung.“

Mittlerweile habe sich zum Glück auch der gesellschaftliche Blick auf die Gruppe Murialdo geändert, führt Patrick Will aus: „Unser Konzept überzeugt. Wir verstehen uns als einen offenen Schutzraum. Viele der Kinder, die zu uns kommen, brauchen erst einmal diese Geschlossenheit, um zur Ruhe und zu sich selbst zu finden. Nach und nach werden dann immer mehr Freiheiten gewährt. Bei uns gilt: so viel Geschlossenheit wie nötig, so viel Freiheit wie möglich.“

Einen geschützten Rahmen bieten

Die Gruppe hat sich weiterentwickelt, professionalisiert, und längst sind es nicht mehr nur straffällig gewordene Kinder, die in Murialdo betreut und begleitet werden. „Wir haben momentan viele Schulverweigerer, die monate- oder jahrelang gar keine Schule besucht haben“, so Gruppenleiterin Katrin Löffert. „Wir haben Kinder, die zu Hause nie Grenzen gesetzt bekommen haben, die psychisch auffällig sind, die sich oder andere gefährden, die aus diversen Gründen nicht in ihren Familien bleiben können. Der geschützte Rahmen dient somit dem Kindeswohl.“

Acht Jungen leben in der Wohngruppe Murialdo. Nur wenn eine familiengerichtliche Entscheidung nach Paragraf 1631b des Bürgerlichen Gesetzbuches vorliegt, können die Kinder im Alter zwischen zehn und 13 Jahren aufgenommen werden. Samuel* ist eines dieser Kinder. Er wurde zu Hause körperlich vernachlässigt, war nächtelang alleine unterwegs, ist nie zur Schule gegangen und kann mit seinen 13 Jahren weder lesen noch schreiben. In seiner Familie hat niemand einen Schulabschluss, sein ältester Bruder war bereits im Gefängnis, außerdem gab es in der Familie Drogenprobleme. Durch die Unterbringung in Murialdo hat Samuel die Chance, einen anderen Weg einzuschlagen. „Ich will wieder regelmäßig zur Schule gehen und lesen lernen“, erzählt der ruhige Junge mit den dunkelblonden kurzen Haaren. In der Wohngruppe gibt es einen eigenen Schulraum, in dem sich Samuel an den Schulunterricht gewöhnen kann. „Ich habe schon viel gelernt“, sagt er. „Ich fühle mich auch wohl, trotzdem möchte ich wieder zu meiner Familie.“

Damit das möglich ist, arbeiten die Betreuerinnen und Betreuer eng mit den Eltern zusammen. „Keines der Kinder hat durch äußere Einflüsse Probleme. Haupt­ursache für die Problemlagen der Jungen sind die Eltern“, bringt es Katrin Löffert auf den Punkt. „Viele Eltern wissen das, können ihre Verhaltensweisen aber nicht ändern. Andere versuchen, mitzumachen, aber es geht ihnen nicht schnell genug. Doch wenn ein Kind elf Jahre gelernt hat, dass es alles darf, kann es das nicht in einem halben Jahr bei uns ablegen.“

Sich neu sortieren und Regeln einhalten

Meistens wohnen die Jungen etwa eineinhalb bis maximal zwei Jahre in Murialdo. Erik* ist mit seinen 15 Jahren der Gruppenälteste. Er durchlief mehrere Maßnahmen, bis er mit 13 Jahren nach Sannerz kam. Jetzt steht bald sein Umzug in eine offene Wohngruppe an. „Ich hatte psychische Probleme, Suizidgedanken und Aggressionen, die ich an anderen abreagiert habe“, erklärt er. „Aber mir hat die Gruppe wirklich gutgetan. Ich konnte mich hier neu sortieren.“ Erik ist sehr reflektiert. Er spielt Gitarre und schreibt eigene Songtexte. Für ihn ist die Musik ein Ventil, um seine Gefühle rauszulassen. Außerdem ist er Gruppensprecher und macht sich für die anderen Kinder stark. „Jeder, der hier ist, hat sehr viel erlebt“, weiß Erik. „Ich habe ein offenes Ohr für die Kinder und kann mich gut in sie hineinversetzen.“

Gerade der Start in der Wohngruppe Murialdo fällt vielen Kindern schwer. Zwei Wochen lang herrscht strikte Ausgangssperre. Die Kinder müssen sich erst daran gewöhnen, dass sie die Gruppe zunächst nicht allein verlassen dürfen. Die Außentür ist abgeschlossen, danach folgt eine Schleuse mit einer Garderobe für Jacken und Schuhe und mit Spinden für die persönlichen Wertsachen. Durch eine zweite Tür, die meist ebenfalls verschlossen ist, geht es in ein helles Foyer. Eine Treppe führt in den ersten Stock mit den acht Einzelzimmern, im Erdgeschoss befinden sich unter anderem der Schulraum, das Ess- und Wohnzimmer und ein Auszeitraum, in dem die Jungen ihrer Wut freien Lauf lassen können. Zur Wohngruppe gehört auch ein in sich abgeschlossener Hof mit Kletterwand, Tischtennisplatte, Basketballkorb und einer großen Vogelnestschaukel zum Abhängen.

Nach und nach können sich die Jungen bestimmte Freiheiten erarbeiten und dürfen beispielsweise mit ihrer Betreuerin oder ihrem Betreuer über das gesamte Gelände der Einrichtung spazieren. „Außerdem sind wir immer wieder mit der Gruppe unterwegs und machen viele Aktionen zusammen. Wir leben also nicht nur hinter verschlossenen Türen“, berichtet Erik. Und wenn das Verhalten passt, dürfen sich die Jungen auch in den örtlichen Sportvereinen engagieren. So spielt Erik im Volleyballverein mit und Samuel im Fußballverein.

Wer allerdings einen anderen schlägt oder verbal übergriffig wird, muss für drei Stunden auf sein Zimmer, damit er über das, was vorgefallen ist, in Ruhe nachdenken kann. „Gewalt ist bei uns immer wieder Thema“, erzählt Katrin Löffert. „Zurzeit kommt es selten vor, dass sich Kinder gegenseitig verletzen. Aber vor einigen Monaten hatten wir zwei Kinder in der Gruppe, da war Gewalt von morgens bis abends an der Tagesordnung.“

Für die Sozialarbeiterin und ihr Team herausfordernde Situationen. Doch kein Grund, aufzugeben. Katrin Löffert hält mit vielen ehemaligen Bewohnern Kontakt und weiß daher, dass sich die Mühen lohnen. „Einige schaffen es nicht, aber ich treffe auch immer wieder Ehemalige, deren Augen glänzen, wenn sie an ihre Zukunft denken. Das freut mich sehr und motiviert mich, weiterzumachen.“

* Name von der Redaktion geändert

Seit mehr als 75 Jahren wirken die Salesianer Don Boscos in Sannerz und unterstützen benachteiligte Jugendliche dabei, ihr Leben trotz aller Widrigkeiten in die Hand zu nehmen und an sich selbst und ihre Zukunft zu glauben.


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