Erziehung statt Strafe

Jugendrichterin Maria Kleimann: „Jugendliche werden nicht immer gewalttätiger oder brutaler“

Kein junger Mensch, der bei ihr in der Verhandlung landet, ist ein hoffnungsloser Fall – davon ist Jugendrichterin Maria Kleimann überzeugt. Sie setzt auf erzieherische Maßnahmen und plädiert dafür, die Präventionsarbeit zu stärken.

veröffentlicht am 20.02.2024

Im Jugendstrafrecht steht der Erziehungsgedanke im Vordergrund. Was bedeutet das konkret?
Das bedeutet, dass wir mit einer verstehenden und nicht mit einer abschreckenden Pädagogik arbeiten. Wenn der angeklagte Jugendliche in meiner Verhandlung versteht, was er getan hat und was daran falsch war, dann besteht die reelle Chance, eine Verhaltensänderung herbeizuführen. Im Erwachsenenstrafrecht gibt es nur zwei Optionen – Geld oder Knast. Im Jugendstrafrecht haben wir einen bunten Blumenstrauß an möglichen Sanktionen, um auf den Jugendlichen erzieherisch einzuwirken.

Inwiefern realisieren die Jugendlichen denn schon vorher, was sie Falsches getan haben?
Jeder, der etwas geklaut hat, der einen anderen geschlagen hat oder mit der Straßenbahn schwarzgefahren ist, weiß natürlich, dass er das nicht darf. Aber manchmal realisieren die Jugendlichen nicht, welche Folgeschäden sie damit anrichten. Einmal stand ein junger Mann bei mir vor Gericht, der nachts einen Erwachsenen überfallen hatte. Er hatte sein Opfer gezwungen, sich hinzu­knien, hatte ihm eine Schreckschusswaffe an die Schläfe gehalten und ihm Handy und Portemonnaie abgenommen. In der Verhandlung hat das Opfer beschrieben, wie es sich dabei gefühlt hatte und wie es in diesem Moment mit seinem Leben abgeschlossen hatte. Das hatte der Jugendliche nicht auf dem Schirm. Er wollte ein bisschen Gangster spielen, aber ihm war nicht bewusst, dass er jemand anderem so viel Angst gemacht hat, dass sich dieser ein halbes Jahr lang kaum getraut hat, auf die Straße zu gehen. Dass die Tat falsch war, wissen die meisten vorher, aber welche Konsequenzen ihr Handeln haben kann, ist vielen jungen Menschen nicht klar.

Wie geraten Jugendliche überhaupt auf die schiefe Bahn?
Dazu muss man vorweg sagen: Jugendkriminalität an sich ist normal und gehört als Entwicklungsstufe zum Erwachsenwerden und zu unserer Gesellschaft dazu. Jeder Jugendliche überschreitet Grenzen. Die meisten schaffen es allerdings so, dass die Polizei nicht eingreifen muss und niemand ernsthaft zu Schaden kommt. Derzeit steigt die Jugendkriminalität nach den Corona-Jahren wieder an. Aus meiner Sicht gibt es aber keinen Grund zur ernsthaften Sorge. Zumindest in meiner Wahrnehmung werden Jugendliche nicht immer gewalttätiger und brutaler und auch nicht immer respektloser. Die meisten Jugendlichen in dieser normalen Phase des Austestens von Grenzen erreichen wir mit unseren Erziehungsmaßnahmen sehr gut, sodass sie ihr Verhalten ändern.

Doch es gibt eine kleine Gruppe von jungen Menschen, die in ganz prekären Verhältnissen großwerden und die aus der Jugendkriminalität in eine verfestigte Erwachsenenkriminalität rutschen. Diese etwa fünf Prozent sind anders – nämlich mutterseelenallein und verlassen. Ich habe viele 14- bis 18-Jährige bei mir im Gericht, die keinen einzigen Erwachsenen benennen können, dem es wichtig ist, was mit ihnen passiert. Das ist eine schreckliche Einsamkeit, Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit. Wie soll so jemand verstehen, dass man einem anderen nicht wehtut oder dass eine Entschuldigung etwas ganz Wertvolles ist, wenn das nie vorgelebt wurde? Das rechtfertigt die Tat nicht, aber es erklärt die Ursachen, warum es zu einer bestimmten Tat gekommen ist. Diese Jugendlichen brauchen Begleitung und jemanden, der sich wirklich für sie interessiert.

Sehen Sie die Taten dieser Jugendlichen in gewisser Form als Notschrei, weil sie sich nicht anders zu helfen wissen?
Selten. Auf die Frage, warum er seine Tat begangen hat, hat mir ein Jugendlicher einmal geantwortet: „Frau Kleimann, ihr seid mit mir kacke umgegangen, also gehe ich auch so mit euch um.“ Das bewerte ich nicht als Notschrei, sondern da steckt eine Überzeugung dahinter, dass einem ein bestimmtes Verhalten zusteht und es gerechtfertigt ist.

Wie wichtig sind gerade für diese Jugendlichen präventive Maßnahmen?
Unfassbar wichtig. Das Einzige, was sie für diese jungen Menschen tun können, ist, sich frühzeitig um sie zu kümmern. Wenn die Angebote und Maßnahmen beispielsweise der Jugend- und Familienhilfe gut funktionieren und früh greifen, kann damit viel erreicht werden. Auch Schulen und Kindergärten sind wichtige Schutzmechanismen, um rechtzeitig zu erkennen, wenn in den Familien etwas schiefläuft.
Durch die schrecklichen Taten im Jahr 2023 wie zum Beispiel in Freudenberg oder Erfurt flammt immer wieder die Diskussion auf, die Strafmündigkeit von Kindern auf unter 14 Jahre herabzusetzen. Doch dadurch verhindere ich keine einzige weitere schlimme Straftat. Da ist sich die Fachwelt einig. Natürlich ist es unglaublich tragisch, wenn zwölfjährige Kinder so schwere Straftaten begehen, andere Kinder brutal quälen bis hin zur Tötung, aber es sind marginale Einzelfälle. Das ist kein Trend, wie manchmal behauptet wird. Viel hilfreicher und sinnvoller wäre es stattdessen, Geld in die Hand zu nehmen, um die Präventionsarbeit zu stärken.

Wie oft kommt es vor, dass Sie bei einem Jugendlichen denken, das ist ein hoffnungsloser Fall?
Nicht häufig, denn auch diese jungen Menschen, die in extrem schwierigen Kontexten aufwachsen, haben erstaunliche Ressourcen. Ich mag auch die ganz sperrigen und schwierigen kriminellen Jugendlichen, weil sie schlau und reflektiert sind, weil sie Kraft, Elan und Energie haben. Wenn ich bei diesen Jugendlichen merke, dass ich sie nur in die richtige Spur bringen muss, bereitet mir das sehr viel Freude. Deswegen weigere ich mich, zu sagen, dass es hoffnungslose Fälle gibt.

Muss man als Jugendrichterin demnach ein besonders optimistischer und positiver Mensch sein?
Ich glaube, ja – und vor allem muss man Jugendliche mögen. Die sind anstrengend, tun obercool und verhalten sich unangemessen. Die sind halt so, wie Jugendliche sind, und das muss man irgendwie charmant finden. Wenn man die Grundeinstellung hat, dass Jugendliche immer schlimmer werden und dass man nichts dagegen unternehmen kann, ist man falsch in dem Job. Deswegen gehe ich in jede Verhandlung und denke mir: Heute bewirke ich etwas – für diesen jungen Menschen.

Portrait Maria Kleimann

Maria Kleimann (46) ist Jugendrichterin und Direktorin des Amtsgerichts Neustadt am Rübenberge. Sie engagiert sich ehrenamtlich im Bundesvorstand der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen (DVJJ) und produziert mit ihrem Mann Matthias Kleimann, Autor und Wissenschaftler, den Jugendrechtspodcast „Scheiße gebaut?!“.


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