Köln, Berlin, Chemnitz

Wie schwer erreichbare junge Menschen bei Don Bosco wieder ins Leben finden

Sogenannte schwer erreichbare junge Menschen treffen oft auf schwer erreichbare Behörden und Hilfsangebote. Don Bosco bietet Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Not niedrigschwellige Unterstützung und begegnen ihnen mit Offenheit und Respekt.
  • Simone Utler

veröffentlicht am 21.12.2021

In den ersten sechs Schuljahren war Angelo „ein fleißiges Bienchen“. Dann kam er auf eine neue Schule und fand neue Freunde – eine Gruppe, die „nicht gut“ für ihn war, wie er heute sagt. „Ich bin abgestürzt. Ich habe die Lehrer angemotzt, hatte schlechte Noten, hing nur zu Hause ab, habe Serien geguckt und Playstation gespielt, bin nicht mehr vor die Tür gegangen“, erinnert sich der heute 20-Jährige und sagt ganz klar: „Ich würde immer noch in der Stube hocken, wenn ich nicht die eine Chance bekommen hätte.“

Die eine Chance, das war für Angelo das Angebot, in die Manege Berlin zu kommen. Seit 2005 gibt es die Manege gGmbH im Don-Bosco-Zentrum im Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf. Am Rande von Berlins größter Plattenbausiedlung, in der rund 270.000 Menschen leben, bieten die Salesianer Don Boscos und die Schwestern der Heiligen Maria Magdalena Postel jungen Menschen in schwierigen Lebenslagen eine ganzheitliche Unterstützung an.

Für Lukas begann der Abstieg mit einem Arbeitsunfall. Er wurde entlassen, konnte seine Rechnungen nicht mehr bezahlen, bekam eine Depression, landete in der Psychiatrie, verlor seine Wohnung. „Wenn man einmal auf der Straße sitzt, ist es nicht so leicht, sein Leben wieder auf die Reihe zu kriegen“, sagt der 26-Jährige, der vor gut drei Jahren an das Projekt „Work4You" im Haus des Don-Bosco-Clubs in Köln-Mülheim vermittelt wurde. Das Programm bietet seit 2016 aus der Spur geratenen jungen Menschen eine Anlaufstelle. Hier gibt es ganz praktische Unterstützung, zum Beispiel bei Meldeangelegenheiten, rechtlichen Fragen, familiären Konflikten oder der Suche nach einer Therapie, sowie Notschlafplätze und Mahlzeiten.

Leben am Rand der Gesellschaft

Nele* kam zu Work4You, weil sie einen sicheren Schlafplatz suchte. Ihre Odyssee hatte begonnen, als sie wegen ihrer Schwangerschaft die Ausbildung zur Kellnerin abbrechen musste. Sie zog zu ihrer Mutter, zog zu den Eltern des Kindsvaters, zog in eine Mutter-Kind-Einrichtung – nichts funktionierte. Ihr Sohn kam in eine Pflegefamilie, Nele in eine WG, es folgten eine Notfallschlafstelle, ein Hotel und schließlich die Straße. Hinzu kamen Beziehungsprobleme, Drogen, Geldmangel.  

Nele, Lukas und Angelo gehören zu einer Gruppe von jungen Menschen, die an den Rand der Gesellschaft gerutscht sind. Es geht um Menschen im Alter von 15 bis 25, teilweise bis 29 Jahren, die im Leben besonders belastet und erhöht auf Unterstützung angewiesen sind. Sie haben Probleme, eine schulische oder berufliche Ausbildung anzugehen oder abzuschließen, kontinuierlich ein Arbeitsverhältnis einzugehen und an die Gesellschaft anzudocken.

Da es eine sehr inhomogene Gruppe ist, fällt eine begriffliche Erfassung schwer. Manche sprechen von jungen Menschen in Not, andere von schwer erreichbaren oder von entkoppelten jungen Menschen. Einige nutzen den Begriff „Systemsprenger“, der aber durchaus umstritten ist. „Wir haben einfach Menschen hier, die anders leben. Und die sprengen nicht das System, sondern das System kommt an seine Grenzen“, sagt die ­Pädagogin Katja Dein von der Chemnitzer Aktivierungshilfe „Startklar in die Zukunft“. Kevin, der 2020 vom Jobcenter an Startklar vermittelt wurde, beschreibt sich und die anderen Teilnehmer so: „Keiner von uns ist glatt und perfekt. Wir haben alle unsere Ecken und Kanten.“

„Wir müssen für diese Zielgruppe sehr reaktionsschnell sein“

Eurostat, die OECD und Destatis nutzen den Begriff NEETs (Young people not in employment, education and training) ­– junge Menschen, die weder in Anstellung noch in Ausbildung oder Schule sind. Im Jahr 2020 lag die NEETs-Rate in Deutschland in der Altersspanne der 15- bis 29-Jährigen laut Eurostat bei 6,4 Prozent, in Österreich bei 7,1 Prozent. Damit liegen beide Länder – wie auch all die Jahre zuvor – deutlich unterhalb des EU-Durchschnitts, der im selben Jahr 12,8 Prozent betrug. (Die NEETs-Rate erfasst den prozentualen Anteil von jungen Menschen, die nicht in Arbeit, Schule oder Ausbildung sind, gemessen an der Gesamtbevölkerung in derselben Altersklasse.)

Die Lebenssituation der jungen Menschen ist häufig von komplexen Problemkonstellationen und Konflikten in den Herkunftsfamilien geprägt, wie eine Umfrage im Jahr 2018 im Rahmen des Projekts RESPEKT, das vom deutschen Bundesministerium für Arbeit und Soziales unterstützt wurde und sich an junge Menschen im Alter von 15 bis 25 Jahren richtete, ergab: 41,8 Prozent der jungen Menschen gaben in ihrem Fragebogen an, familiäre Konflikte zu haben. 36,1 Prozent hatten nach eigenen Angaben eine gesundheitliche Einschränkung, 30,4 Prozent berichteten von einer drohenden oder bereits eingetretenen Wohnungslosigkeit.

„Wir müssen für diese Zielgruppe sehr reaktionsschnell sein“, beschreibt Schwester Margareta Kühn, die Leiterin der Manege Berlin, eine Herausforderung. „Wenn wir sie heute erreichen, muss auch heute was geschehen – nicht erst in zwei Wochen oder Monaten.“ Die jungen Menschen seien – wenn überhaupt ­– hier und jetzt erreichbar – und diese Reaktionsschnelligkeit könnten die deutschen Systeme oftmals nicht leisten. „Es müssen Rhythmen zusammenkommen, die einen Tanz hinbekommen.“

Rechtliche Verwirrungen

Schwester Margareta sieht verschiedene Schwachstellen im System. Zum einen würde – wie häufig – an falschen Stellen gespart: „Schulen sind nicht darauf ausgerichtet, kleinere Klassen und mehr Hilfesysteme zu haben.“ Zum anderen würden Förderketten unterbrochen, weil Jugendliche und ihre Familien sich oft in der Überforderung mit der Bürokratie unerreichbar machten. „Sie sagen: Bevor ich die Post nicht verstehe, mache ich sie lieber gar nicht erst auf“, so Schwester Margareta. Viele Menschen seien verloren zwischen den verschiedenen Säulen der Sozialgesetzgebung. „Sie brauchen x Chancen, um wieder einzusteigen – aber wenn nötig, auch klare Konsequenzen, die begleitet werden und eine Rückkehr offenhalten.“

In Deutschland fallen die Probleme der jungen Menschen in verschiedene Rechtskreise und die Zuständigkeiten auf verschiedene Behörden. Die Förderung schwer erreichbarer junger Menschen ist zunächst einmal originäre Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe nach Sozialgesetzbuch (SGB) VIII. Außerdem relevant sind das SGB II mit der Grundsicherung für Arbeitsuchende und dem Jobcenter, das SGB III mit der Arbeitsförderung und der Agentur für Arbeit sowie nachgeordnet das SGB XII mit der Sozialhilfe und ihren Trägern. „Man weiß nicht, an welches Amt man sich wenden soll. Die Ämter wissen es manchmal selber nicht, man wird nur hin- und hergeschickt“, beschreibt Lukas seine Erfahrungen.

Auch Experten sehen in den verschiedenen Rechtskreisen ein Problem. „Wir haben ein Gesetzessystem, und die Menschen müssen ihre Situation anpassen. Das kann es nicht sein“, sagt Silke Starke-Uekermann, Referentin für Öffentlichkeitsarbeit und Jugendsozialarbeit bei der Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit (BAG KJS) e.V. „Wir brauchen ein Hilfssystem, das so individuell ist, dass es sich den Menschen anpasst.“

Rund-um-die-Uhr-Präsenz inklusive Notübernachtung

Mit der Einführung von §16h SGB II zur Förderung schwer zu erreichender junger Menschen im August 2016 sollte durch die Kooperation von Jugendhilfe und Jobcenter die berufliche und soziale Integration verbessert werden. Dies funktioniere an manchen Standorten auch sehr gut, sagt Silke Starke-Uekermann, aber: „Eine regelhafte rechtsübergreifende Zusammenarbeit ist in Deutschland nach wie vor Mangelware.“

Schwester Margareta Kühn betont, dass die Träger an den Schwachstellen sehr gute Expertisen einbringen könnten: „Das bedeutet aber auch von unserer Seite, sich zu bewegen, Netzwerke zu bilden, Akteure einzuladen und nicht abzuwarten, dass Politik und Verwaltung etwas tun.“

Die Manege Berlin begegnet den verschiedenen Herausforderungen mit einem extrem umfassenden Angebot. Es gibt eine „Rund um die Uhr-Präsenz“ inklusive Notübernachtung, einen aufsuchenden Bereich, aktivierende Hilfen, ambulante und stationäre Erziehungshilfe, ein Wohnprojekt und übergreifende Angebote wie Elterntraining und psychologische Beratung. Die Manege-Schule führt mindestens zum Hauptschulabschluss, in der Manege-Firma können 23- bis 25-Jährige als sozialversicherungspflichtige Angestellte tätig sein, und seit Oktober 2021 gibt es eine kleine Kindertagesstätte.

„Jeder wird respektvoll behandelt“

„Weil wir fast alles im Angebot haben, müssen wir niemanden wegschicken“, sagt der stellvertretende Einrichtungsleiter Erik Mohring. Insgesamt konnte die Manege im Jahr 2020 in den verschiedenen Bereichen 415 Teilnehmende betreuen. „Vielen ist klar: Hier bekomme ich unbürokratisch, unmittelbar und schnell spürbar Unterstützung“, so Mohring.

Auch Dodo hat von dem umfangreichen Angebot der Manege profitiert. Sie ist für die Schule gekommen und lässt sich jetzt zur Fachkraft Gastgewerbe ausbilden. Die 18-Jährige erlernt alles Relevante aus den Bereichen Küche, Service und Hotel und fühlt sich sehr wohl: „Jeder wird hier respektvoll behandelt.“

Die Haltung, mit der man den schwer erreichbaren jungen Menschen begegnet, ist entscheidend. „Es geht darum, eine wertschätzende Haltung auf Augenhöhe einzunehmen“, sagt Silke Starke-Uekermann. „Es läuft überall dort gut, wo die Kolleg*innen vor Ort wissen, wo der Schuh drückt, die Situation und die Bedarfe der jungen Menschen kennen und keine urteilende Rolle einnehmen, sondern nach dem Prinzip verfahren: Der, der da ist, und mit dem, was ist, ist genau der Richtige.“

Bei Startklar in Chemnitz steht der Beziehungsaufbau immer an erster Stelle. „Nur wenn dieser geglückt ist, lassen sich gemeinsam Ziele erarbeiten“, sagt Startklar-Leiterin Lisa Kernke.

Mehr individuelle Angebote

Experten sind sich einig: Aufsuchende Arbeit ist ein Schlüssel zum Erfolg. „Beratungen und Unterstützungsangebote müssen zu den jungen Menschen gebracht werden und nicht warten, bis die jungen Menschen die Institutionen aufsuchen“, sagt Birgit Beierling, Referentin für Jugendsozialarbeit bei Der Paritätische Gesamtverband. Es würden mehr individuelle Begleitungen und Hilfestellungen benötigt, weniger vereinheitlichte Maßnahmeformate. „Gerade in den Zeiten der Pandemie und in der Folgezeit sind weniger junge Menschen als zuvor bei den Institutionen zur Unterstützung bei der beruflichen Einmündung angekommen.“

So liegt auch bei der Manege Berlin ein Schwerpunkt auf aufsuchender Arbeit: In Marzahn-Hellersdorf und in Reinickendorf ist der Beratungsbus im Einsatz und hilft den Menschen vor Ort. Seit Februar 2019 gibt es eine Außenstelle im Nordwesten Berlins in Reinickendorf, seit Oktober 2020 eine weitere in Treptow-Köpenick, die aufsuchende Arbeit für schwer erreichbare Jugendliche leisten.

Der Erfolg gibt den individuellen Angeboten recht: Angelo gelang es in der Manege, eine Alltagsstruktur zu entwickeln und eine Perspektive zu finden. Er besuchte die Manege-Schule, arbeitete in der Manege-Firma und hat im Herbst 2021 eine Ausbildung begonnen. Lukas fand mithilfe von Work4You eine eigene Wohnung und hat sich um einen Studienplatz für Sozialarbeit beworben. Nele versucht mit Unterstützung des Teams, wieder Kontakt zu ihrem Sohn zu bekommen.  

*Namen von der Redaktion geändert


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