Konzepte

Interview: Was schwer erreichbare junge Menschen brauchen

Niedrigschwellige Angebote, Bindungsstabilität und Unterstützung aus einer Hand: Was jungen Menschen in schwierigen Lebenssituationen helfen kann, erklärt im Gespräch mit dem Don Bosco Magazin der Soziologe Andreas Kirchner.
  • Simone Utler

veröffentlicht am 21.12.2021

Ein junger Mensch, der in Deutschland Hilfe sucht, hat mit verschiedenen Rechtskreisen und Behörden zu tun. Sind die Hürden für Hilfen zu hoch?
Kinder und Jugendliche fallen aus Hilfen heraus, weil sie von unterschiedlichen Institutionen geleistet oder finanziell anderen Töpfen zugeordnet sind. Es braucht Schnittstellen, die Erreichbarkeit erzeugen und Fenster schaffen. Die Bindungsforschung hat gezeigt, dass es immer schwieriger wird, junge Menschen zu erreichen, je mehr es zu Bindungsabbrüchen kommt. Aber genau das passiert in Ämtern, wenn örtliche und sachliche Zuständigkeiten zu Unterbrechungen oder Weiterverweisungen führen.

Was erleichtert den jungen Menschen den Zugang zu Leistungen?
Niedrigschwelligkeit ist ein Kernelement. Das kann ein offener Treff bieten, wo ich einfach hingehen kann und was zu essen bekomme. Im Idealfall ist die Anlaufstelle 24/7 erreichbar, sodass Jugendliche andocken können, wenn sie ein Problem haben und offen für Hilfe sind. Und: Die jungen Menschen müssen dort auch scheitern dürfen ­– sie müssen auch wegbleiben dürfen und wiederkommen können.

Welche Probleme gibt es bei der Umsetzung?
Wir bräuchten faktisch eine Finanzierung, die nicht über Fachstunden abgerechnet wird. Ich müsste das Projekt also erst mal ausstatten ­– unabhängig davon,
ob Teilnehmer kommen oder nicht. Da sollten die öffentlichen Träger in Vorleistung gehen und Erreichbarkeit erzeugen, damit beispielsweise Personal da ist, wenn jemand kommt.

Wie kann Ihr Buch dabei helfen?
Wenn eine Einrichtung ein Projekt finanziert bekommen möchte, muss sie Begründungen und ein Konzept liefern. Mit dem Buch wollen wir ein Rahmenkonzept bieten, mit dem Träger an die Sozialpolitik herantreten und sie auffordern können, für bestimmte junge Menschen auch etwas Besonderes zu tun. Das Buch umfasst Handlungsaufforderungen, die sich ableiten lassen aus rechtlichen Normen, internationalem Recht, Sozialethiken – und einer salesianischen Perspektive.

Was ist das Besondere an der salesianischen Perspektive?
Was Don Bosco im 19. Jahrhundert gemacht hat, war einfach toll: Er hat Anlaufstellen für junge Menschen geschaffen – unabhängig von der Finanzierung, einfach, weil es ihm um das Wohl junger Menschen ging. Damit verbunden sind prägende pädagogische Ideen und ein sozialpolitisches Einwirken.

Prof. Dr. Andreas Kirchner hat Sozialpädagogik und Philosophie studiert, in Soziologie promoviert und war viele Jahre in der Jugendarbeit tätig. Seit 2012 lehrt er an der Katholischen Stiftungshochschule in München. Im Herbst erschien sein Buch „Prekäre Positionen. Perspektiven für die Arbeit mit schwer erreichbaren jungen Menschen“ (Don Bosco Verlag, € 18,00).


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