Reportage
Jung und obdachlos: Wenn Jugendliche auf der Straße leben
Der Alltag junger wohnungsloser Menschen wird bestimmt von der Suche nach einem sicheren Schlafplatz oder Geld für die nächste Mahlzeit. Wie Don Bosco Nürnberg die Jugendlichen unterstützt und manchmal auch Perspektiven für die Zukunft schafft.
veröffentlicht am 12.11.2025
Mittwochmorgen, kurz nach neun. In der Nürnberger Fußgängerzone ist noch nicht allzu viel los, die meisten Geschäfte haben noch geschlossen. Nur rund um den kleinen „Smart Kiosk“ in der Pfannenschmiedsgasse stehen ein paar junge Leute in dicken Jacken, Kapuzen über den Kopf gezogen, eine Tasse warmen Kaffee in den Händen. Es ist kühl so früh morgens und die meisten, die hier stehen, haben kein Zuhause.
Die Nacht haben sie bei Freunden verbracht, irgendwo an einem halbwegs geschützten Ort im Freien oder in einer Notschlafstelle in der Nähe des Nürnberger Hauptbahnhofs. Um neun Uhr macht die Notschlafstelle zu und für viele ist dann der „Smart Kiosk“ die erste Station des Tages. Betrieben wird er vom Don Bosco Jugendwerk Nürnberg als niedrigschwellige Erstanlaufstelle für obdachlose junge Menschen. Den Kaffee bekommen sie hier umsonst. Außerdem gibt es kostenloses WLAN und die Möglichkeit, das eigene Handy zu laden.
Der Kiosk ist eines von mehreren Projekten, mit denen das Team von Don Bosco Nürnberg versucht, junge Menschen am Rand der Gesellschaft zu erreichen. Daneben gibt es zum Beispiel auch einen Bus, der als mobile Erstanlaufstation Plätze anfährt, an denen sich junge Obdachlose oft aufhalten und einen Offenen Treff. Viele der Angebote sind allerdings abhängig von Finanzierungshilfen und Genehmigungen und laufen deshalb oft nur eine Zeit lang, selbst wenn sie gut angenommen werden. Für den Smart Kiosk ist dieser Mittwoch einer der letzten Öffnungstage, bevor er – zumindest vorübergehend – schließen muss.
Im Smart Kiosk bekommen Wohnungslose Kaffee und Beratung
Hinter dem Tresen stehen an diesem Morgen Sozialarbeiter Kevin Rachele und seine Kollegin Marie Bartsch. Ihre Besucher begrüßen sie mit einem freundlichen Lächeln und oft auch mit Namen, denn viele kommen regelmäßig hierher. „Du willst bestimmt einen Kaffee“, sagt Kevin und schiebt einer jungen Frau eine bereits gefüllte Tasse hin. Nele* ist 22 Jahre alt und hat die Nacht in der Wohnung einer Bekannten verbracht. Seit fast zwei Jahren hat sie kein eigenes Zuhause mehr. Sie spricht nicht gerne darüber, warum sie von zu Hause weggelaufen ist. „Es gab immer Ärger“, sagt sie nur.
Hier am Smart Kiosk muss sie nicht über ihre Probleme reden. Das Angebot ist bewusst niedrigschwellig gehalten, weil gerade Menschen, die auf der Straße leben, viele Negativerfahrungen in Familie, Schule, mit Ämtern oder Behörden hinter sich haben. Vertrauen in Beziehungen und Hilfsangebote muss da erst langsam wachsen.
„Die meisten kommen erst mal nur unverbindlich vorbei und wollen nichts weiter als eine Tasse Kaffee, sich mit anderen treffen oder das Handy laden“, weiß Kevin Rachele aus Erfahrung. „Aber wenn sie ein paar Mal da waren, erzählen viele dann doch von ihren Problemen und sind durchaus offen für Beratung.“ Er und seine Kollegin hören vor allem zu und vermitteln bei Bedarf passende Hilfsangebote.
Eines davon ist der Offene Tagestreff von Don Bosco Nürnberg im Stadtteil Muggenhof: Junge Obdachlose finden hier vor allem Hilfen, die den Alltag auf der Straße erleichtern: Dusche und Toilette, Waschmaschine und Trockner, eine Tasse warmen Tee und kostenloses Mittagessen, erste Hilfe bei kleinen Verletzungen und einen geschützten Raum außerhalb der Öffentlichkeit.
Von acht Uhr morgens bis acht Uhr abends ist der Treff geöffnet. Hier drinnen ist es warm, hell und freundlich. Es gibt eine Küchenzeile, Möbel aus hellem Holz und einen Kicker in der Mitte des Raums. Auf der Bank an der Wand liegt ein junger Mann, eingemummelt in eine schwarze Jacke, die Kapuze weit ins Gesicht gezogen, und schläft. Ein anderer sitzt daneben am Tisch, blass, Ringe unter den Augen, sichtbar erschöpft. „Wer die Nacht draußen auf der Straße verbringt, kommt oft nicht viel zum Schlafen – zum Beispiel weil es zu kalt ist oder zu unsicher. Wenn sie hierherkommen, sind sie oft einfach nur müde“, erklärt Sophia Freund, eine der Mitarbeiterinnen im Team des Offenen Treffs.
Junge Obdachlose geben sich nach außen hin hart
Sie fragt den jungen Mann am Tisch, wie es ihm geht und als er sagt, ihm sei schlecht, macht sie erst mal eine Tasse Tee. „Zurzeit kommen viele, die krank sind“, sagt Sophia. Oft sind es nur Kleinigkeiten, eine Erkältung zum Beispiel, bei der sich die meisten Menschen einfach ins Bett legen und sie auskurieren würden. Aber wer auf der Straße lebt, hat diese Möglichkeit nicht. „Auf der Straße sind die Jugendlichen komplett auf sich selbst gestellt. Das ist hart“, erklärt Nadine Herold, ebenfalls Mitarbeiterin im Offenen Treff.
Was sie immer wieder beobachtet, ist, dass auch die jungen Obdachlosen sich nach außen entsprechend hart geben. Und wer sich mit den jungen Menschen im Treff unterhält, merkt schnell, dass sie Recht hat: Draußen im Raucherbereich zum Beispiel sitzen Lea* und Angelina*. Wenn man sie nach dem Leben auf der Straße fragt, klingt die Antwort erst einmal nach Freiheit. „Meine Eltern haben mich rausgeworfen, aber das ist mir egal, da gab es eh nur Zoff“, sagt Lea. Angelina erklärt, sie hätte zuletzt in einer Jugendhilfeeinrichtung gelebt, sei aber immer wieder weggelaufen.
Die beiden erzählen davon, wie cool sie es finden, mit Crystal Meth eine ganze Nacht durchzumachen und betonen, dass sie sich von niemandem etwas vorschreiben lassen. Aber wenn man ihnen länger zuhört, kommen schnell auch negative Erfahrungen dazu: Lea sagt, sie sei schon einmal vergewaltigt worden. Angelina ergänzt, dass sie in mehrere Schlägereien verwickelt war. Und dass es nervt, keinen Rückzugsort zu haben. Keinen Raum, wo man die Tür hinter sich zumachen und wirklich ungestört und sicher sein kann.
Die Jugendlichen brauchen jemanden der sich sorgt und hilft
„Auch wenn viele sich hart geben und keine Schwäche eingestehen wollen, ist das nur Überlebensstrategie. Eigentlich bräuchten sie jemanden, der sich sorgt und hilft“, ist Nadine Herold überzeugt. Allerdings braucht es meist einige Zeit, bis junge Menschen, die auf der Straße leben, bereit sind, sich helfen zu lassen. Denn dass sie sich aus der Gesellschaft zurückgezogen haben, hat seine Gründe: familiäre Konflikte, psychische Erkrankungen, Suchtprobleme, Gewalt, Mobbing, finanzielle Schwierigkeiten.
Oft kommt mehreres davon zusammen, bevor ein junger Mensch auf der Straße landet. Und durch das Leben dort kommen meist noch mehr Probleme dazu – etwa Schulden, Kriminalität oder Drogen. Sich dem Berg an Problemen zu stellen und eine neue Perspektive für das eigene Leben zu entwickeln, braucht Mut, viel Motivation und noch mehr Durchhaltevermögen.
„Es gibt immer wieder junge Menschen, die schon auf einem guten Weg raus aus dem Leben auf der Straße waren, dann aber plötzlich doch wieder alles hinschmeißen und einfach verschwinden“, sagt Nadine Herold. Sie und ihre Kolleginnen und Kollegen lassen sich davon aber nicht entmutigen. Sie geben jedem eine neue Chance. Denn es gibt durchaus auch Erfolgsgeschichten.
Luca* hat den Weg zurück in ein geregeltes Leben geschafft
Ein Beispiel dafür ist Luca*. Wenn man ihn nach der Freiheit bei einem Leben auf der Straße fragt, klingt die Antwort ganz anders als zuvor bei Lea und Angelina: „Freiheit? Auf der Straße bist du nicht frei“, sagt der 22-Jährige und seine Stimme klingt bitter. „Du bist eigentlich nur damit beschäftigt, dir einen Schlafplatz für die nächste Nacht zu suchen. Oder was zu essen.“
Der schmale junge Mann weiß, wovon er redet. Vor zweieinhalb Jahren haben ihn seine Eltern zu Hause rausgeworfen. Warum genau, kann er nicht sagen. Aber er hat eine Ahnung davon, was er falsch gemacht hat: „Ich bin oft einfach in meinem Zimmer gesessen, konnte mich zu nichts motivieren.“ Er hatte mehrere Ausbildungen angefangen und wieder abgebrochen, gekifft und gelegentlich auch geklaut.
Nachdem er sein Zuhause verloren hatte, ist Luca erst einmal zu einem Kumpel nach Thüringen gezogen. „Aber das war nicht für lange. Wegen Jobcenter und so musste ich ja immer wieder nach Nürnberg.“ Also stand er auf der Straße, das Notwendigste in einen Rucksack gepackt und ohne einen Plan für die Zukunft. „Das Schlimmste, wenn du auf der Straße lebst, ist, dass du nirgends hinkannst und nichts machen. Du musst irgendwie die Zeit rumbringen und bist den ganzen Tag draußen.”
Geschlafen hat er in Notschlafstellen, auf Parkbänken oder Spielplätzen und, wenn es besonders kalt war, auch mal im Treppenhaus eines Mehrfamilienhauses. Um sich Essen kaufen zu können, hat er geklaut. Um sich abzulenken, hat er Drogen genommen. Von einer Notschlafstelle bekam er schließlich den Tipp, dass er tagsüber in den Offenen Treff von Don Bosco gehen kann. Das hat er gemacht, weil es kostenloses Mittagessen dort gibt und einen warmen Raum. „Einen Monat oder so bin ich da regelmäßig hingegangen. Irgendwann hat mich ein Betreuer angesprochen und gefragt, was ich so mache und was mein Plan ist.“
Neue Berufsperspektiven und ein fester Wohnsitz
Für Luca war das der Beginn vom Weg zurück in ein geregeltes Leben. Heute wohnt er in der Pension „Schrittmacher“, die ebenfalls zum Don Bosco Jugendwerk Nürnberg gehört. Der Betreuer von damals begleitet ihn noch immer. Regelmäßig kommt er vorbei, gibt Ratschläge, hilft Probleme zu lösen, motiviert und mahnt, wenn es nötig ist. „Bei Don Bosco ist das so: Die tun alles für dich, was in ihrer Macht steht, aber du musst das auch selber wollen und mitmachen”, sagt Luca. Er hat mittlerweile eine berufliche Perspektive für sich gefunden: Nach mehreren Aktivierungsmaßnahmen hat er jetzt eine Ausbildung zum Maler in Sicht. Und auch seine Eltern, zu denen er ein Jahr lang überhaupt keinen Kontakt mehr hatte, trifft er wieder.
„Ich bin eigentlich ein introvertierter Mensch und mir ist das echt schwergefallen, über meine Situation und die ganzen Probleme zu reden“, sagt der junge Mann über sich selbst. „Aber ich würde jedem, der auf der Straße lebt, raten, Hilfe anzunehmen.“
Die Möglichkeit ein Handy am Smart Kiosk zu laden oder ein Mittagessen im Offenen Treff sind Hilfen, die viele junge Obdachlose annehmen, weil sie eine praktische Erleichterung für den Alltag auf der Straße bieten. Für einige werden sie aber zu weit mehr: einem allerersten Schritt auf dem Weg in ein neues Leben.
Don Bosco Jugendwerk Nürnberg
In verschiedenen Wohnmöglichkeiten und bei der Wohnungsnothilfe von Don Bosco Nürnberg finden Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene Schutz, die aus unterschiedlichen Gründen nicht mehr zu Hause wohnen. Ziel ist es, ihnen neue Perspektiven zu eröffnen, Teilhabe zu ermöglichen und sie auf Ausbildung und Arbeit vorzubereiten.







