Konflikte in Familien
Wenn Jugendliche weglaufen wollen: Warum eine starke Eltern-Kind-Beziehung entscheidend ist
Zoff gibt es in vielen Familien. Doch was können Eltern tun, wenn ihr jugendliches Kind im Streit droht, von zu Hause wegzulaufen? Psychotherapeutin Barbara Binder von der Initiative „Rat auf Draht“ in Österreich gibt im Interview hilfreiche Tipps.
veröffentlicht am 12.11.2025
Konflikte zwischen Eltern und jugendlichen Kindern gibt es wahrscheinlich in jeder Familie.
Wie kann es so weit kommen, dass Jugendliche von zu Hause weglaufen und lieber auf der Straße leben?
Es kann schon mal vorkommen, dass Jugendliche im Affekt bei einem Streit sagen: „Dann lebe ich halt woanders!“ Aber das dann wirklich durchzuziehen, ist schon ein harter Schritt, der nicht von heute auf morgen passiert. Meistens hat das eine Vorgeschichte. Da ist die Familiensituation dann schon länger schwierig.
Es gibt zwei Extreme, die das Aufwachsen für Kinder und Jugendliche besonders schwierig machen. Zum einen kann es sein, dass die Eltern zu streng sind: Wenn Kindern kaum Freiräume gegeben werden, gibt das gerade in der Pubertät oft Probleme, weil die Jugendlichen selbstständiger werden wollen, aber eigentlich keine Handlungsmöglichkeiten haben. Dann ist der Fluchtimpuls sehr stark. Alle Eltern haben den Wunsch, nur das Beste für ihr Kind zu machen, aber das geht manchmal nach hinten los, wenn die Eltern zu streng sind und glauben, immer genau zu wissen, was die Kinder tun sollen.
Das andere Extrem ist es, wenn Eltern sehr mit eigenen Problemen beschäftigt sind. Wenn sie zum Beispiel mit finanziellen Problemen, psychischen Erkrankungen oder Süchten zu kämpfen haben, kann das dazu führen, dass sie ihre Kinder vernachlässigen und sie nicht so begleiten, wie sie es brauchen – gerade in der Pubertät.
Da kommt es dann manchmal vor, dass Kinder und Jugendliche sich Freunde suchen, bei denen sie sich wohler fühlen als bei den Eltern. Auf der Suche nach einem neuen, besseren Zuhause wandern sie dann vielleicht von einer Couch auf die andere, probieren Drogen aus oder landen in Kreisen, die nicht so förderlich sind für ihre Zukunft.
Was können Eltern präventiv tun, um eine solche Situation zu vermeiden?
Die beste Prävention, die es überhaupt gibt, ist eine starke Beziehung zwischen Eltern und Kindern. Ein solches Band knüpft man aber nicht erst in der Pubertät. Das fängt schon bei kleinen Kindern an. Am wichtigsten ist es, das Kind mit seinen Bedürfnissen zu sehen, auf es einzugehen und an seiner Lebenswelt teilzuhaben. Nicht zu viel natürlich, denn das Kind will ja auch Privatsphäre haben, aber grundsätzlich sollten Kinder und Jugendliche das Gefühl haben, Mama und Papa interessieren sich dafür, wer ich bin, welche Wünsche ich habe und was mich interessiert. Zuhören und als Erwachsener auch mal die Perspektive des Kindes einnehmen ist dabei ganz wichtig.
Wenn Eltern ihre Kinder so begleiten, dann entsteht eine starke Beziehung zwischen ihnen. Das heißt nicht, dass es dann keine Konflikte mehr gibt. Manchmal haben Kinder und Jugendliche das Bedürfnis, etwas selbst ausprobieren zu wollen oder etwas anders zu machen als die Eltern. Ganz oft geht es darum, das auszuhalten und bei Konflikten nach gemeinsamen Lösungen zu suchen. So macht das Kind die Erfahrung: Diese Beziehung ist stark, hält viel aus und man muss bei Konflikten nicht weglaufen.
Natürlich entwickeln Jugendliche das Bedürfnis, sich ein eigenes Leben aufzubauen, das ist wichtig und gesund. Und es ist gut, wenn sie irgendwann von zu Hause ausziehen und sich von den Eltern lösen. Aber es muss zum richtigen Zeitpunkt sein, so dass sie gestärkt sind durch die Beziehung zu den Eltern, und dann die eigenen Wege gehen können.
Wie können Eltern reagieren, wenn ihr jugendliches Kind im Streit damit droht, von zu Hause wegzulaufen?
Wenn das im Affekt passiert, ist es wichtig, ruhig zu bleiben und nicht zu sagen: „Dann geh doch!“ Auch wenn man als Elternteil selbst gerade wütend ist. Das Kind provoziert so eine Reaktion vielleicht in dem Moment, hat aber sicher auch Angst, tatsächlich zu hören, dass es zu Hause unerwünscht ist. Deswegen ist es ganz wichtig, sich da zurückzuhalten.
Vielleicht kann man im Moment des Streits lieber sagen: „Darüber reden wir später.“ Und dann zu einem anderen Zeitpunkt in Ruhe darüber sprechen, was es für das Kind tatsächlich im Alltag bedeuten würde, wenn es von zu Hause weggeht.
Oft merken dann beide Seiten, dass der oder die Jugendliche gar nicht wirklich von zu Hause weg will. So eine Drohung ist oft nur ein Hilfeschrei. Die Jugendlichen wollen nicht wirklich weg. Sie wollen eigentlich, dass sich zu Hause etwas ändert. Meistens gibt es ja etwas, über das häufig gestritten wird. Das kann dann die Chance sein, sich dieses Problem genau anzuschauen und eine gemeinsame Lösung zu finden.
Wann ist es ratsam, sich professionelle Hilfe zu holen?
Wenn Eltern merken, dass sie den Draht zu ihrem Kind verloren haben. Wenn sie das Gefühl haben, der oder die Jugendliche ist in einer eigenen Welt, ist von der Stimmung stark verändert, zieht sich mehr zurück, ist aggressiver oder trauriger als sonst oder hat fragliche soziale Kontakte. Dann ist es gut, das anzusprechen und dem Kind zu sagen: „Wir machen uns Sorgen.“ Und es auch zu fragen, ob es sich vorstellen kann, mit jemand anderem darüber zu sprechen.
Das Problem an professioneller Hilfe ist oft, dass Kinder und Jugendliche die Möglichkeit einer Therapie nicht annehmen wollen oder dass Eltern sich scheuen, um Hilfe zu bitten. Aber es gibt sowohl für Eltern als auch für Kinder und Jugendliche Beratungsstellen, bei denen man ganz unverbindlich anrufen und die Situation schildern kann.
Das eigene Kind vor die Tür zu setzen ist ein harter Schritt, selbst wenn es bereits volljährig ist. In welchen Situationen kann es trotzdem ratsam sein, dass Eltern auch räumlich auf Abstand gehen?
Eine räumliche Trennung braucht es, wenn es keinen Weg mehr aus dem Konflikt gibt, wenn sich das Ganze immer weiter aufschaukelt und destruktiv wird – ganz besonders, wenn Gewalt im Spiel ist und es zu Situationen kommt, in denen man als Elternteil selbst Angst hat. Dann sollte man nicht zu lange am Zusammenleben festhalten.
Vielleicht gibt es die Möglichkeit, das Kind für eine Weile bei Verwandten oder anderen Erwachsenen unterzubringen, denen man vertraut. So eine vorübergehende räumliche Trennung kann Erleichterung verschaffen und eine aufgeladene Situation beruhigen. Möglicherweise verbessert sich die Beziehung durch die Distanz wieder.
Vielleicht ist es aber auch so weit, dass das Kind selbstständig werden muss und komplett auszieht
– gerade wenn es schon volljährig ist. Dann sollte man überlegen, welche finanzielle Unterstützung es braucht und was es selbst leisten kann und muss. Und man sollte genau hinschauen, ob es eventuell Probleme gibt, bei denen professionelle Hilfe nötig ist, damit das Kind den eigenen Weg gehen kann – etwa bei Sucht oder Schulden.
Beratungsangebote für Eltern
Viele Probleme werden leichter, wenn man sie mit jemandem teilt. Und ein professioneller Rat kann bei Konflikten in der Familie oft neue Perspektiven eröffnen. Sowohl in Deutschland als auch in Österreich gibt es deshalb verschiedene Beratungsstellen, an die sich Eltern bei Erziehungsfragen, Konflikten in der Familie oder Problemen mit ihren Kindern wenden können. Die Beratung ist kostenlos und oft auch anonym und unverbindlich per Telefon oder online möglich. Eine Auswahl an (Online)-Beratungsangeboten:
In Österreich
- Elternseite von „Rat auf Draht“: Auf der Elternseite der Initiative „Rat auf Draht“ von ORF und SOS Kinderdorf finden Eltern und andere Bezugspersonen von Kindern Beratung zu Erziehungsfragen auf elternseite.at – online oder per Telefon.
- Familienberatungsstellen: In Österreich gibt es über 400 Familien- und Partnerberatungsstellen von unterschiedlichsten Trägerorganisationen. Diese werden aus dem Budget des Bundeskanzleramtes, Sektion Familie und Jugend, gefördert. Eine Beratungsstelle in Ihrer Nähe können Sie auf familienberatung.gv.at finden.
In Deutschland
- Onlineberatung der bke: Die Bundeskonferenz für Erziehungsberatung (bke) ist der Fachverband für Erziehungs-, Familien- und Jugendberatung in Deutschland. Die bke-Onlineberatung kooperiert mit Erziehungs-, Familien- und Jugendberatungsstellen verschiedener Träger und bietet Beratung durch Fachleute zu allen kleinen und großen Problemen in Erziehung und Familie.
- Elternberatung der „Nummer gegen Kummer“: Die „Nummer gegen Kummer“ bietet nicht nur Beratung für Kinder und Jugendliche in Krisensituationen, sondern auch eine Elternberatung.
- Familienberatung der Caritas: Die Familienberatung der Caritas hilft weiter bei familiären Problemen oder Fragen zur Erziehung – online oder in einer Beratungsstelle vor Ort.





