Hilfe für Straßenkinder

Bus der Hoffnung in Sierra Leone

In Sierra Leone leben Tausende Kinder auf der Straße. Viele haben ihre Familien während der Ebola-Krise verloren. Das Don Bosco Mobil sucht die Straßenkinder an ihren Plätzen auf und bringt ein wenig Abwechslung in ihren harten Alltag.
  • York Schäfer

veröffentlicht am 28.02.2018

„Das ist unser Sommer“, steht in weißer Schrift auf dem hellblauen T-Shirt von Ishmael*. Die freudige Botschaft aus dem deutschen Fußball-Sommermärchen 2006 wirkt wie ein sarkastischer Kommentar am drahtigen Körper des jungen Mannes. Ob Ishmael in den letzten Jahren seines Lebens einen unbeschwerten Sommer hatte, wie es das Secondhandshirt aus Deutschland suggeriert, ist eher zu bezweifeln. Der 20-Jährige ist seit fünf Jahren obdachlos und gehört damit zu den etwa 2.500 Kindern und jungen Erwachsenen, die dauerhaft auf den Straßen der sierra-leonischen Hauptstadt Freetown leben.

An einer Straßenecke unweit der Hafenslums haben sich an diesem frühen Dezemberabend die ersten Jungen und jungen Männer auf einem steinigen Platz hinter der St. Georg’s Cathedral eingefunden. Jeden Montag fahren die Mitarbeiter des Don Bosco Mobil Programms hierher, um den Straßenkindern Unterstützung und ein wenig Abwechslung in ihrem rauen und gefährlichen Alltag zu bieten.

Es wird getanzt

Der gröbste Müll auf dem Platz wird mit einem Handfeger beseitigt. Helfer aus dem elfköpfigen Don Bosco Team tragen Bänke und Biertische heran und schrauben geschwungene, weiße Energiesparlampen in provisorische Metallständer. Eine mobile Soundbox wird aufgebaut, im Hintergrund rattert der Generator. Später, wenn mehr Jungs da sind, wird auch getanzt.

Ishmael erzählt, dass seine Eltern starben, als er ein Jahr alt war. 1998 war das, auf dem Höhepunkt des Bürgerkriegs in Sierra Leone. Er wuchs bei seiner Tante auf, die 2012 an Cholera starb. Seitdem lebt er auf der Straße. Er verdient ein wenig Geld als Warenträger. „Für eine Meile Orangen-Tragen brauche ich 18 Minuten und bekomme dafür 4.000 Leone“ (etwa 45 Cent), erzählt er fast mit der Akribie eines Geschäftsmannes. Für Ishmaels Lebensunterhalt reicht das kaum. Um die Jobs rivalisieren viele der Straßenjungs. Manche säubern früh morgens die Eingänge von Geschäften oder Marktständen und putzen Restauranttische. Andere verkaufen Waren wie Zigaretten, Süßigkeiten und Früchte oder kleine Handtücher an die verschwitzten Autofahrer in den Dauerstaus auf Freetowns Straßen. Betteln, Diebstahl und in einigen Fällen auch Prostitution gehören zum harten Überlebensalltag der männlichen Kinder und Jugendlichen, die im Schnitt 14 bis 15 Jahre alt sind.
„Straßenjungen erleben täglich physische und psychische Gewalt durch Gleichaltrige, Bekannte, Geschäftsleute, Passanten und sogar durch die Polizei und das Militär“, heißt es in einer Umfrage, die Don Bosco Fambul noch unter der Leitung von Direktor Lothar Wagner 2010 unter 188 Straßenjungen in Freetown durchgeführt hat. Knapp zwei Drittel der Jungs sind aus ländlichen Gegenden in die Hauptstadt gekommen. Armut, Missbrauch und mangelnde Zuwendung sind die Hauptgründe, auf die Straße zu flüchten. Und die Anzahl der Straßenkinder steigt weiter an. Durch die Ebola-Epidemie in Sierra Leone 2014 und 2015 sind landesweit 12.000 Kinder vom Tod eines für sie sorgenden Familienmitglieds betroffen.

„Ich arbeite seit 22 Jahren in Afrika, aber ich habe noch nie Menschen getroffen, die so viel leiden wie hier in Sierra Leone. Bürgerkrieg, Ebola und andere Kata-strophen haben ihre Spuren hinterlassen. Aber die Menschen haben die große Kraft, immer wieder aufzustehen und zu kämpfen“, erklärt Salesianerpater Jorge M. Crisafulli, Direktor von Don Bosco Fambul in Freetown.

Bei dem Treffen an der St. George's Cathedral können sich die Straßenjungen registrieren lassen, um gezielt Hilfe zu bekommen. „Das Angebot von Don Bosco Mobil in dieser Gegend richtet sich an etwa 500 Straßenkinder“, berichtet Sozialarbeiterin Posseh Dingeikbo. Vor allem Geduld sei gefragt und immer wieder die Ermutigung für die Kinder, ihr Leben zu ändern. Viele der Jungs geben sich cool während der Begegnung, sie posieren für die Kamera, machen Späßchen mit dem elektronischen Moskitofänger, der durch die Dunkelheit schwingt wie ein leuchtender Strandballschläger. Stärke zeigen, cool sein – ein wohl unverzichtbares Verhalten, um auf der Straße zu überleben.

Ein Ort voller Leben

Auf einer Metallbank an der Kathedrale sitzen Amad* und Saidu*, beide zwölf Jahre alt, die mit Abstand Jüngsten hier. Sie spielen „Draft“, eine Art Damespiel mit grob bearbeiteten schwarzen und weißen Steinen. Auf die Frage, warum sie seit zwei Monaten auf der Straße leben, wissen die beiden keine rechte Antwort. Nachfrage bei Francis S. Kamara, Projektkoordinator des Don Bosco Mobil-Projektes, 32 Jahre alt, ein Mann mit ruhiger, besonnener Ausstrahlung. „Wie viele Straßenjungen sind auch die beiden eine Zeit lang zu Hause und dann wieder eine Weile auf der Straße“, erzählt der Sozialarbeiter bei einem Treffen am nächsten Morgen in seinem kleinen Büro im Don Bosco Gebäude im Zentrum von Freetown.

Ein vibrierendes, verwinkeltes Haus über drei Etagen, gerade sind hier 230 Frauen und Kinder untergebracht, die einige Monate zuvor bei einem schweren Erdrutsch am Rande der Stadt Angehörige verloren haben und deren Häuser zerstört wurden. Durch die offenen Treppenhäuser hallen das Rufen und Schreien spielender Kinder und der Lärm von Handwerksarbeiten. „Fambul bedeutet Familie in der Krio-Sprache, die hier in Sierra Leone gesprochen wird. Das ist es, was wir als Don Bosco Fambul anbieten wollen: eine Familie, ein Zuhause, in dem sich die Menschen willkommen fühlen“, betont Pater Jorge M. Crisafulli.

Amad und Saidu vom Platz an der Kathedrale schlagen ihr Nachtlager an der vor einigen Jahren eingestürzten King Jimmy Bridge auf. Dort, wo vor Jahrhunderten die Sklaven aus Westafrika angekettet an eine Hafenmauer ihre letzte Station vor dem Abtransport nach Übersee hatten, ist heute ein Zentrum der Straßenjungs in Freetown. Auch Ishmael schläft an diesem geschichtsträchtigen Ort der Unterdrückung. Seine Träume aber knüpfen an das ganz aktuelle Problem weltweiter Flüchtlingsbewegungen. „Ich habe nur eine Bitte an Gott: dass ich zu meiner Stiefmutter nach Deutschland kann“, sagt er und plant trotzdem auch für sein weiteres Leben in Sierra Leone. Ein Bekannter wolle einen Kleinlaster kaufen, erzählt er. „Dann kann ich Fahrer werden“, ist Ishmaels Hoffnung für die Zukunft.    

* Name geändert

Mehr Informationen über die Arbeit der Salesianer Don Boscos und der Don Bosco Schwestern in Sierra Leone bei Don Bosco Mission Bonn, Don Bosco Mission Austria und der Missionsprokur der Don Bosco Schwestern.

Don Bosco Fambul

1994 während des Bürgerkrieges in Sierra Leone gegründet, war das ursprüngliche Ziel von „Don Bosco Fambul“ die Rehabilitation von Kindersoldaten. Heute ist die Einrichtung vor allem eine Anlaufstelle für Straßenkinder. Bei Direktor Pater Jorge M. Crisafulli und seinen Mitarbeitern bekommen sie eine medizinische Versorgung, Hygieneschulungen und zahlreiche Spiel- und Bildungsangebote. Darüber hinaus ist das Don Bosco Mobil vor allem in den Slums von Freetown unterwegs. Die Salesianer haben auch eine landesweite Telefon-Hotline für Kinder eingerichtet. Im Programm „Girls Shelter Plus“ erhalten Kinderprostituierte Schutz und Unterstützung. Zudem kümmert sich Don Bosco Fambul um „vergessene“ Jugendliche im Pademba-Gefängnis.


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