Schule

Chile: Hilfe für Kinder und Jugendliche mit Behinderung

In Chile werden junge Menschen mit geistiger oder körperlicher Behinderung kaum unterstützt. Die von den Salesianern Don Boscos geführte Laura Vicuña Schule in Puerto Montt bietet ihnen die Chance auf eine bessere Zukunft.

veröffentlicht am 21.12.2021

Wenn Tomás* aus der Schule kommt, steht das Mittagessen schon auf dem Tisch. Sein Vater hat alles vorbereitet und leistet seinem Sohn beim Essen gerne Gesellschaft. José Villanueva lebt mit Tomás in einer Hütte aus Wellblech und Holz in einem Armenviertel der Hafenstadt Puerto Montt im Süden Chiles. Beide schlafen und essen in einem Raum, der immer sauber und aufgeräumt ist. Darauf legt der 39-jährige José viel Wert. Eine Heizung gibt es nicht, die Wände sind mit Eierkartons isoliert. Denn die Winter hier können unangenehm kalt und nass werden.

Vater und Sohn haben ein inniges Verhältnis und verbringen viel Zeit miteinander. José zieht seinen Sohn, der eine leichte geistige Behinderung und Lernbeeinträchtigung hat, alleine groß. Die Mutter verließ die beiden, als Tomás gerade einmal zwei Jahre alt war. Sie hatte einen anderen Mann kennengelernt, mit dem sie ein neues Leben beginnen wollte. Ihren Sohn hat sie schon lange nicht mehr gesehen. Trotz Besuchsregeln verzichtet sie lieber darauf. Bei Tomás’ Geburt wurden erst keine Beeinträchtigungen festgestellt. Erst später, als er mit vier Jahren in den Kindergarten kam, wurde José mitgeteilt, dass sein Sohn Lernprobleme habe und besser in eine Sonderschule gehen solle.

Finanzielle Unterstützung vom Staat oder seiner Familie erhielt José während der letzten 15 Jahre keine. „Glücklicherweise gab es Engel auf unserem Weg“, sagt der Vater zufrieden. Zu diesen Engeln zählen für ihn auch die Salesianer Don Boscos. Seitdem sein Junge fünf Jahre alt war, geht er jeden Tag von 9 bis 13 Uhr in die Laura Vicuña Schule. Dort werden junge Menschen bis 26 Jahre mit einer geistigen und körperlichen Behinderung schulisch und beruflich gefördert.

Ausgezeichnete Arbeit

„Tomás hat große Fortschritte gemacht, seit er regelmäßig zu uns kommt. Die schulische Förderung ist für diese Kinder sehr wichtig, aber vor allem auch, Vertrauen zu schaffen“, betont Johanna Gómez, Schulleiterin und Sonderschullehrerin. Seit mehr als zehn Jahren ist sie an der Laura Vicuña Schule. Tomás’ Vater kann das nur bestätigen: „Er ist aufgeschlossener geworden und kann sich besser artikulieren. Das Lernen fällt ihm deutlich leichter“, so der Vater. José, der selber eine leichte geistige Beeinträchtigung hat, wurde als Kind nie schulisch gefördert, was er bis heute sehr bedauert.

Seit 1996 fördert und begleitet die Schule „Laura Vicuña“ junge Menschen mit einem Handicap. Für ihr Bildungsangebot erhielt die Einrichtung im Jahr 2016/17 vom nationalen Bildungsministerium das Qualitätszertifikat „Excelencia Académica“. „Die Kinder und Jugendlichen unserer Schule kommen aus armen Familien. Viele sind indigener Herkunft und werden gesellschaftlich ausgegrenzt“, so die Schulleiterin Gomez. „Uns ist es wichtig, ihnen Zukunftschancen zu schaffen – durch eine solide Berufsausbildung und Integration in die Arbeitswelt.“ Die Salesianer Don Boscos arbeiten hierzu eng mit ­Unternehmen zusammen. Durch Praktika sollen die Schülerinnen und Schüler erste Berufserfahrungen sammeln. „Praktika erhöhen zudem die Chancen, später einen Arbeitsplatz zu bekommen“, erklärt die Sonderschullehrerin.
In der Schule werden Koch-, Back- und Handarbeitskurse angeboten. In Sportkursen wird die psychomotorische Entwicklung der Kinder und Jugendlichen gefördert. Zudem gibt es Musiktherapien und logopädische Unterstützung. Auch der Umgang mit dem Computer wird den Schülerinnen und Schülern vermittelt.

75 Prozent der arbeitsfähigen Menschen mit Behinderung sind arbeitslos

In Chile sind rund 75 Prozent der arbeitsfähigen Menschen mit Behinderung arbeitslos. Nur wenige Einrichtungen in dem südamerikanischen Land fördern Kinder und Jugendliche mit einem geistigen oder physischen Handicap. Laut der letzten Volkszählung aus dem Jahr 2012 haben 12,9 Prozent der chilenischen Bevölkerung eine körperliche oder geistige Beeinträchtigung.

Der 17-jährige Tomás ist eher schüchtern und introvertiert. Im Unterricht hört er aufmerksam und interessiert zu. Immer noch ist es schwer für ihn, deutlich zu sprechen und sich klar auszudrücken. „Oft ist er einfach nervös und verhaspelt sich deshalb beim Sprechen“, erklärt José. Das sei aber mit der Zeit besser geworden. Die Schule habe ihm geholfen, seine Unsicherheit etwas zu überwinden. „Tomás hat mittlerweile gelernt, in vollständigen Sätzen zu sprechen. Er kann jetzt auch handwerklich arbeiten und sich mit anderen Kindern austauschen“, sagt sein Vater sichtlich stolz.

Nach dem Mittagessen verbringt Tomás viele Stunden am Handy. Seinen einzigen Freund aus der Schule darf er wegen Corona nach dem Unterricht nicht mehr sehen. Die Isolation durch die Pandemie hat ihn verunsichert und Ängste hervorgerufen. Sein Vater hat vor allem Sorge, dass der Junge sich mit dem Corona-Virus anstecken könnte.

José sorgt sich um die Zukunft seines Jungen

Die Eltern von Fernanda* haben sich deshalb entschieden, ihre Tochter gar nicht mehr in die Schule zu schicken. Sie halten die Gefahr für zu groß, dass ihre Tochter, die mit Downsyndrom zur Welt kam, sich mit dem Virus infizieren könnte. Seit zwei Jahren nimmt Fernanda nun nicht mehr am Präsenzunterricht teil. Online-Unterricht ist für Fernanda keine wirkliche Alternative. Sie kann sich nur schlecht konzentrieren. Die Eltern haben deshalb beschlossen, ihre Tochter ab nächstem Jahr wieder zur Schule zu schicken.

José sorgt sich um die Zukunft seines Jungen. „Wer wird sich um ihn kümmern, wenn ich nicht mehr da bin? Ich bin alles, was er hat, und ich kann ihm nicht einmal Geld hinterlassen, damit er sich selbst versorgen kann, wenn ich nicht mehr da bin.“ Zurzeit versucht der 39-Jährige, ein staatliches Fertighaus zu erhalten. 1.500 US-Dollar muss er dafür bezahlen, bisher hat er mit Mühe gerade einmal 1.000 US-Dollar beisammen. José hat kein geregeltes Einkommen, sondern sichert das Überleben seiner kleinen Familie mit Gelegenheitsjobs. Wenn sein Sohn vormittags in der Schule ist, putzt er Häuser oder verkauft Eier auf dem Markt. Von dem Geld kann er Lebensmittel kaufen und die Kosten für die Wohnung bezahlen. Zum Sparen bleibt nicht viel.

Auch die Eltern von Fernanda machen sich Sorgen um die Zukunft ihrer Tochter. „Meine größte Angst ist, dass Fernanda kein Geld zum Leben hat, wenn wir sterben“, betont Fernandas Vater. „Ich versuche deshalb, so viel Geld für sie zu sparen wie möglich. Damit sie später ein gutes und menschenwürdiges Leben führen kann.“ Der jüngere Bruder wird sich wohl später um seine Schwester kümmern müssen. Der 13-Jährige liebt seine Schwester, aber ist sich auch der ungeheuren Verantwortung bewusst.

José hofft, dass er das restliche Geld für das Haus noch zusammenbekommt. Er zeigt sich optimistisch: „Mein Sohn soll wenigstens ein warmes Zuhause haben und ein würdevolles Leben führen können. Das ist alles, was für mich zählt!“

*Namen von der Redaktion geändert

Mehr Informationen über die Arbeit der Salesianer Don Boscos und der Don Bosco Schwestern im Kongo bei Don Bosco Mission Bonn, Don Bosco Mission Austria und der Missionsprokur der Don Bosco Schwestern.

Umfassende Hilfen: Don Bosco in Chile 

Die Salesianer Don Boscos sind seit 1887 in Chile. Über das ganze Land verteilt gibt es 22 Don Bosco Schulen, zwei Stiftungen, 19 Pfarreien sowie zahlreiche Oratorien und Jugendzentren. In Santiago, der Hauptstadt Chiles, haben die Salesianer Don Boscos zudem eine katholische Universität gegründet. Rund zwei Drittel der Studentinnen und Studenten erhalten Stipendien und können kostenlos studieren. Die meisten kommen aus armen Familien.


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