Schulsozialarbeit und Therapie

Burnout bei Kindern – „Wir sind im Moment als Psychotherapeuten eher ein Reparaturbetrieb“

Um Kinder besser vor Burnout zu schützen, müssten Gesundheitswesen und Schule früher zusammenarbeiten, sagt Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut Marcus Reeh. Ein Gespräch über Ängste, überzogene Leistungsanforderungen und KI in der Therapie.

veröffentlicht am 01.07.2025

Herr Dr. Reeh, Sie arbeiten bei der Diagnose und Behandlung von Burnout bei Kindern eng mit der Schulsozialarbeit der Don Bosco Einrichtung Villa Lampe zusammen. Wie sieht diese Zusammenarbeit genau aus? 
Die Villa Lampe ist der Träger der Jugendsozialarbeit, die im Landkreis Eichsfeld die Sozialarbeiter an den Schulen stellen. Die Schulsozialarbeiter haben eine wichtige Brückenfunktion. Sie sehen Kinder, bei denen eine schulische sozialpädagogische Unterstützung notwendig ist, Kinder, die auffällig werden, bei denen die Lehrer nicht weiter wissen oder es nicht mehr auffangen können. Dann ist manchmal zusätzlich ein psychologisches oder psychotherapeutisches Angebot angezeigt. Dafür gibt es einen kurzen Draht – eine niedrigschwellige Erreichbarkeit ist wichtig. Die Schulsozialarbeiter können sich direkt an mich wenden und sagen, wir würden dieses Kind gerne mal bei Ihnen vorstellen, und vermitteln dann den Kontakt.

Wie äußert sich im schulischen Umfeld ein drohendes oder schon bestehendes Burnout? 
Manchmal gibt es deutlich erkennbare Symptome wie zum Beispiel aggressives Verhalten, Konzentrationsstörungen oder gehäufte Fehlzeiten. Es können aber auch eher stille Anzeichen sein wie Leistungsabfall, Rückzug, Kopf- oder Bauchschmerzen.

Welchen Einfluss haben Schule, Familie und andere Faktoren bei der Entstehung eines Burnouts bei Kindern? 
Grundsätzlich kann der Einfluss immer in zwei Richtungen gehen. Die Schule und das familiäre Umfeld können einen sehr unterstützenden Einfluss haben, eine Ressource sein, aber sie können auch ein Risiko und Belastungsfaktor sein. Manche Kinder sind zuhause sehr belastet, gehen dann in die Schule und haben da ihre Erfolge. Andere Kinder müssen zuhause ihren sozialen Akku aufladen.

Wie läuft die Therapie üblicherweise ab? 
Ich sage immer: Ohne Diagnostik keine Operation. Es geht zunächst einmal darum, die auslösenden und aufrechterhaltenden Bedingungen zu identifizieren, also zu schauen, wo die konkreten Belastungsfaktoren im sozialen Umfeld oder in den anderen Lebensbereichen sind. Wenn ein Kind zum Beispiel sagt, ich habe Angst, in die Schule zu gehen, dann kann es natürlich sein, dass die Zehntklässler am Schultor stehen und das Kind mobben. Das ist aber keine Indikation für eine Psychotherapie, sondern dann würde man zum Beispiel den Schulsozialarbeiter ansprechen und ihn bitten, sich mal anzuschauen, was da los ist.

Stress entsteht immer durch innere und äußere Faktoren. Es kann sein, dass es äußere Faktoren gibt, dass das Kind aus irgendeinem Grund überfordert ist, dass es eine Lese-Rechtschreibschwäche oder andere Schwierigkeiten hat oder es überzogene Leistungsanforderungen der Eltern gibt. Oder es sind innere Faktoren, denn Stress entsteht häufig im Kopf, dass beispielsweise übertriebene Ängste entstehen um die kranke Mutter, die zuhause im Bett liegt. Die Schulsozialarbeiter haben ein offenes Ohr für solche Probleme der Schüler und können die Familie bei Bedarf aufsuchen.

Die Schulsozialarbeiter fahren zu den Familien? 
Ja, wenn ein Kind zum Beispiel nicht in die Schule geht, können sie auf diese Weise besser klären, welche „Kraft“ das Kind eigentlich zuhause hält. Man kann Störungen nur behandeln, wenn man sie vor Augen hat. Man versteht sie oft besser, wenn man etwas mehr von den Lebenswelten der Kinder mitkriegt. Das ist der Vorteil von uns Psychotherapeuten und von den Sozialarbeitern. Die Lehrer haben dafür oft gar nicht genug Zeit. Sie sollen die Kinder – neben der Vermittlung von Fachwissen- auch für das Leben vorbereiten, wissen aber eigentlich zu wenig von ihnen und ihrer Lebensrealität.

Werden Eltern und Lehrkräfte auch in der Therapie mit eingebunden? 
Das ist ganz wichtig. Ich spreche gerne von einer „Billardtherapie“. Je jünger die Kinder sind, desto wichtiger ist die Elternarbeit. Man kann ein kleines Kind oder ein Grundschulkind gar nicht ohne die engen Bezugspersonen behandeln, weil Kinder sehr kontextabhängig sind. Als Schule oder Therapeut sind wir sozusagen nur ein kleines Rädchen im System. Deshalb brauchen wir die Eltern.

Kinder werden oft „geschickt“, meist von der Schule oder von den Sozialarbeitern. Dann braucht man unbedingt die Eltern - um nochmal das Bild vom Billard aufzugreifen - als Bande, um sie anzuspielen. Oder die Lehrer. Ihnen kann man dann zum Beispiel sagen, das Kind braucht eine alternative Art der Leistungskontrolle oder eine extra Pause. Als Therapeuten müssen wir immer die Eltern oder Lehrer als Bezugspersonen mit einbeziehen.

Wie sieht ein präventives Vorgehen aus, wenn Schulsozialarbeit und Psychotherapie Hand in Hand arbeiten? 
Wir haben ein kuratives Gesundheitssystem. Prävention, mehr Prävention wäre gut. Es wäre besser, weil humaner und langfristig auch billiger. Wir sind im Moment als Psychotherapeuten eher ein Reparaturbetrieb. Es muss erst eine Störung vorliegen, bevor wir tätig werden. Wir brauchen erst eine Diagnose, wir brauchen erst eine Krankheit, vorher können wir nicht therapieren. Es wäre natürlich besser, wenn es mehr und früher Prävention gäbe, wenn Kinder früher vorgestellt würden und nicht erst dann, wenn eine Symptomatik schon chronisch geworden ist. Ich plädiere immer dafür, dass Gesundheitswesen und Jugendhilfe oder Schulsozialarbeit früher, enger und mehr präventiv zusammenarbeiten.

Was wünschen Sie sich genau? Was könnte getan werden? 
Bildungsbiografien werden schon im Kindergarten „gemacht“. Man braucht mehr Schulpsychologen, Qualifizierung von Erziehern, Personal. Außerdem kleinere Klassen. Als Therapeuten haben wir den Vorteil, dass wir häufig in einer 1:1-Situation sind. Die Lehrer haben es viel schwerer, auf die individuellen Unterschiede einzugehen.

Wir wollen alle Integration und Inklusion haben. Aber wir haben eigentlich nicht die personellen und strukturellen Voraussetzungen und Ressourcen. Es sind ja nicht die Lehrpläne an sich, die das Burnout bewirken. Es gibt ganz viele motivierte Lehrer und Leute, die sich engagieren. Auf der Einzelebene funktioniert das meiner Erfahrung nach auch gut. Aber ich denke, wenn man das nicht personell und finanziell gut einstellt, geraten nicht nur die Schüler, sondern auch die Lehrer, die Therapeuten und das ganze System ins Burnout. Es gibt ja tolle Projekte, Wutkontrolle, soziales Training und andere. Das wird an den Schulen schon gemacht, aber es muss verstetigt werden, es darf nicht immer nur einen Projektcharakter haben.

Von der Gesellschaft würde ich mir wünschen, dass wir wieder eine Wertschätzung für alle Schulformen und für alle Lebenswege haben. Es geht nicht nur darum, das Abitur zu machen - und die Hauptschüler sagen, wir sind abgehängt, unser Abschluss ist nichts wert.

Gibt es einen Fall, der beispielhaft zeigt, wie eine gute Zusammenarbeit zwischen Schulsozialarbeit und Therapie Kindern wirklich helfen kann?
Ich denke zum Beispiel an einen Fall von Schulabsentismus, also wiederholtem Fehlen im Unterricht. Da war es so, dass jemand sich für den Schüler interessiert hat, aufsuchend geschaut hat, wo die Schwierigkeiten waren und dann den ersten Kontakt zu mir angebahnt hat. Wir haben zusammen einen Wiedereingliederungsplan für die Schule gemacht. Die Lehrerin und der Schulsozialarbeiter wurden in meine Praxis einbestellt. Am ersten Schultag haben sie mit dem Schüler zusammen gefrühstückt und diesen Tag positiv begonnen. Das war sehr unterstützend für das Kind.

Wir hatten einen anderen Schüler, der große Angst vorm Sprechen hatte und später Thüringens Zweibester in einem handwerklichen Beruf geworden ist. Das ist doch toll! Das ist das Schönste, wenn man die Kinder oder Jugendlichen später wieder sieht und sie einen Abschluss haben, das ist schon eine Erfolgsgeschichte.

Hinzu kommt: Gesellschaftlich können wir es uns nicht leisten, dass wir diese Kinder und Jugendlichen verlieren. Wenn sie nicht in Brot und Arbeit landen, dann brauchen sie später finanzielle Unterstützung vom Staat. Um diese Kinder und Jugendlichen muss man kämpfen, und das funktioniert am besten in der Kooperation.

Zum Schluss noch eine Frage zu einem Thema, das gerade in der Öffentlichkeit sehr präsent ist und stark beworben wird: Was halten Sie von KI-Therapeuten? 
Ich weiß nicht, ob KI-Therapie besser ist als eine reale „Face-to-face“-Therapie. Wahrscheinlich kann ein Chatbot tatsächlich empathische Antworten geben. Aber ob der so ein individuelles Störungsmodell entwickeln kann, von dem ich eingangs gesprochen habe, da bin ich skeptisch.

Der Chatbot weiß vielleicht, was man richtlinienmäßig bei ADHS oder bei Essstörungen machen soll, wie viele Kalorien man essen soll. Aber wir behandeln ja Menschen und keine Diagnosen. Wir müssen individuelle Störungsmodelle „bauen“. Dafür bedarf es einer Beziehung, einer Kontaktaufnahme. Was ist, wenn etwas nicht klappt? Wie geht man mit Frustration oder fehlender Einsicht um? Wie holt der Chatbot die fehlende Unterstützung der Lehrerin ein? Wie gewinnt er hochzerstrittene Eltern, bei denen sich ihre Kinder mit Symptomatik „opfern“? Es bedarf einer systemischen Arbeitsweise, eines kooperativen Behandlungsansatzes, bei dem ich den Lehrer einbeziehe oder sicherstelle, dass beide Eltern mit der Therapie einverstanden sind. Bei zerstrittenen Eltern ist es oft so, dass die Kinder in Ambivalenzkonflikte kommen, wenn die Eltern sich nicht einig sind. Damit umzugehen, würde der Chatbot nicht leisten.

Es ist nicht alles falsch. In der KI ist schon viel sinnvolles Störungswissen enthalten. Aber das umzusetzen, anzuwenden und zu gestalten, das bedarf der Zusammenarbeit. Hinzu kommt: Probleme müssen dort behandelt werden, wo sie entstehen. Da muss man halt auch mal in die Schule oder in den Haushalt gehen, da muss man die individuelle Störung als Therapeut vor Augen haben, man muss sie gesehen und verstanden haben – und das kann die KI (noch) nicht. 

Porträt Marcus Reeh

Marcus Reeh ist promovierter Diplom-Psychologe. Er arbeitet als Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut, bietet Verhaltenstherapie für Kinder und Jugendliche an und ist Kinderschutzfachkraft im Landkreis Eichsfeld. 

Die Schulsozialarbeit der Villa Lampe

Die Villa Lampe im thüringischen Heilbad Heiligenstadt bietet als Einrichtung der Offenen Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit ein soziales Netzwerk für junge Menschen. Zu ihren Aufgaben gehört die Schulsozialarbeit im Landkreis Eichsfeld, die Schülerinnen und Schüler im Prozess des Erwachsenwerdens begleitet. Die Einrichtung stellt dafür sozialpädagogische und therapeutische Fachkräfte aus den unterschiedlichen Bereichen und Arbeitsfeldern zur Verfügung. Die Villa Lampe steht in gemeinsamer Trägerschaft der Deutschen Provinz der Salesianer Don Boscos und des Bistums Erfurt. 


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