Keine Trenddiagnose

„Jugendliche spüren hohe gesellschaftliche Erwartungen auf sich lasten“ – Therapeutin über Burnout im Schulalter

Ausgebrannt, ausgelaugt, innerlich leer – so fühlen sich Menschen, die an einem Burnout leiden. Was viele nicht wissen: Schon Kinder und Jugendliche sind gefährdet. Psychotherapeutin Clara Marchand erklärt, woher das kommt und was ihnen hilft.

veröffentlicht am 01.07.2025

Über Burnout wird viel gesprochen und geschrieben. Was ist das eigentlich genau? 
Ein Burnout ist ein Zustand emotionaler und körperlicher Erschöpfung. Es steht sehr stark in Verbindung mit einem schul- oder arbeitsbezogenen Zusammenhang und äußert sich in einem anhaltenden Stress- und Überforderungserleben.

Wichtig zu wissen ist, dass Burnout keine eigenständige psychiatrische Diagnose ist, es gibt dafür keinen eigenen Klassifikationsschlüssel. Es kann also sein, dass in der Beschreibung der Diagnose das Wort Burnout nicht vorkommt, sondern stattdessen von einer depressiven Episode oder einer Anpassungsstörung die Rede ist. 

Der Begriff Burnout stammt aus dem Englischen und bedeutet übersetzt etwas wie Ausgebrannt-Sein. Das verdeutlicht sehr gut, wie sich die Betroffenen fühlen, nämlich innerlich ausgelaugt, sie haben das Gefühl einer innerlichen Leere. Man kann sich das so vorstellen, dass man sich wie ein Roboter fühlt, der nur noch funktioniert, ohne beseelt zu sein. Die Betroffenen spüren nicht mehr den Kontakt zu sich selber, man könnte es auch mit Selbstentfremdung beschreiben. Sie fühlen sich häufig sehr ineffizient, sie haben nicht Gefühl, dass das, was sie anpacken, erfolgreich ist. Dies wiederum kann zu einer gereizten Grundstimmung oder auch einer gleichgültigen Haltung führen, die sich in einer Interessen- und Freudlosigkeit äußert. Das ist ein Zustand, der für die Betroffenen sehr unangenehm und schwer aushaltbar ist. 

Aus dem Arbeitsumfeld kennt man diese Symptomatik. Aber können tatsächlich schon Kinder ein Burnout bekommen? 
Wir beobachten, dass Patientinnen und Patienten, insbesondere in der Klinik, nicht selten unter einer hochfunktionellen Depression leiden. Das heißt, es gibt ein Stresserleben, dann wird daraus ein Burnout, und daraus entsteht in einer weiteren Stufe eine hochfunktionale Depression. Das ist sozusagen das Ergebnis, wenn sich das Burnout chronifiziert. Wir behandeln sehr häufig Jugendliche, bei denen genau das der Anlass dafür war, dass sie sich bei uns in der Klinik vorgestellt haben. 

Burnout kann durchaus schon im Schulalter auftreten. Gerade in der Phase der Pubertät, in der es zu vielen körperlichen, hormonellen und psychosozialen Veränderungen kommt, sind Jugendliche sehr gefährdet, ein Burnout zu entwickeln. Insbesondere, wenn es ein hohes innerliches Anspruchsdenken gibt, wenn die Jugendlichen sich sehr stark über Leistung definieren. Aufgrund all der Veränderungen haben viele Jugendlichen keine gute Bewältigungsstrategie im Umgang mit Stress und Misserfolgen. Auch die Emotionalität überfordert sie manchmal, weil sie Stimmungsschwankungen oder eine gereizte Grundstimmung haben. Wenn dann schulischer Druck dazukommt, wenn Eltern stark auf Leistung schauen, kann es sein, dass schon Jugendliche ein Burnout entwickeln können. 

Heißt das dann, dass in der Schule oder im Elternhaus etwas falsch läuft? 
Eine so direkte Ursachenzuschreibung würde ich nicht vornehmen, denn es gibt immer mehrere Faktoren, die zu einem Burnout führen. Aber sicherlich ist die heutige Schulkultur nicht immer einfach für die Kinder und Jugendlichen – zum Beispiel der gebundene Ganztag, bei dem es wenige Erholungsphasen gibt, wo Schule ein Ort ist, an dem man sich die längste Zeit des Tages aufhält, wo man ständig sozialer Bewertung und Leistungsbewertung ausgesetzt ist. Ich würde aber nicht sagen, dass das Schulsystem oder die Eltern „schuld“ sind.  

Was sind denn die Ursachen für ein Burnout?
Das ist nicht so eindeutig zu beantworten. Wir gehen, wie schon gesagt, immer von einem multifaktoriellen Ursachenmodell aus. Wir prüfen jeweils: Was bringt der Betroffene genetisch mit? Gibt es psychische Erkrankungen im familiären Umfeld? Gibt es belastende Kindheitserfahrungen? Wie wird in der Familie mit dem Thema Leistung umgegangen? Gibt es explizite oder implizite Erwartungen von den Eltern an das Kind? Gibt es andere relevante Dinge im Leben des Kindes oder des Jugendlichen? Es ist also sehr komplex und immer individuell zu betrachten. 

Wie äußert sich ein Burnout speziell bei Kindern?
Es ist von außen oft sehr schwer zu erkennen. Oft bleibt es lange unentdeckt, weil die Betroffenen nach außen weiter funktionieren. Es gibt auch nicht so einen klaren Anfang der Erkrankungen wie zum Beispiel bei einer klassischen Depression. Bei einem Burnout werden die Leistungsfähigkeit und die Alltagsbewältigung häufig schleichend unterwandert, objektiv sind sie nicht so stark eingeschränkt wie bei anderen psychischen Erkrankungen. Die Handlungsebene, also das Verhalten, ist weiterhin sehr angepasst und hochfunktional. Oft betrifft es auch Menschen, die sich sehr um andere kümmern, engagiert sind, die von sich aus schon eine hohe Leistungsfähigkeit und einen hohen Anspruch mitbringen.

Häufig entwickeln die Kinder und Jugendlichen allerdings körperliche Symptome, die eher mit psychischen als mit körperlichen Faktoren in Verbindung stehen wie zum Beispiel Bauchschmerzen oder Kopfschmerzen. Es kann vorkommen, dass es trotz viel eigenständigen Lernens zu einem Leistungsabfall in der Schule kommt und dass die Kinder und Jugendlichen müde und ausgelaugt wirken, dass sie nicht mehr so begeisterungsfähig sind, dass sie keine Freude mehr an Aktivitäten empfinden, die ihnen sonst immer viel Freude bereitet haben. Manchmal gibt es auch Appetitlosigkeit oder Schlafstörungen. Meistens kann man erst in der Rückschau feststellen, wann es möglicherweise angefangen hat. 

In Schilderungen von betroffenen Erwachsenen gibt es oft diesen einen Moment, an dem plötzlich nichts mehr geht. Die Person liegt im Bett und merkt, dass sie nicht mehr aufstehen kann. Das ist etwas, was Sie nicht beschrieben haben. 
Auch das kommt vor. Aber aus meiner persönlichen klinischen Betrachtung heraus ist es bei Jugendlichen eher ein schleichender Prozess. Ich glaube, dass die Kinder und Jugendlichen unfassbare Kompensationsleistungen erbringen. Vielleicht gibt es einen kurzen Einbruch, der sich am Wochenende zeigt, aber dann steigen sie wieder ins Hamsterrad ein. Wenn es dann zu einer psychischen Dekompensation kommt, wenn sie nicht mehr in der Lage sind, die Belastungen oder Störungen anderweitig auszugleichen, dann ist es wie bei den Erwachsenen, dass erstmal gar nichts mehr geht.

Wenn die Kinder und Jugendlichen dann in der Klinik in Behandlung sind, haben sie oft Schwierigkeiten, morgens aus dem Bett zu kommen, sind massiv antriebsgemindert. Es gibt aber auch Patientinnen und Patienten, die weiter die perfekte Patienten- oder Patientinnenrolle erfüllen wollen, an allen Therapien teilnehmen und Therapieaufgaben dreimal machen. 

Welche Therapiemöglichkeiten gibt es für die Kinder und Jugendlichen?
Der erste Schritt ist, sich bei den niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen vorzustellen. In der ambulanten Verhaltenstherapie lernen die Patientinnen und Patienten Stressbewältigungsstrategien, einen Umgang mit Leistungsdruck und Versagensängsten, Strategien zur Emotionsregulation und einen Ausweg aus der chronischen innerlichen Leere. Zudem geht es viel darum, Selbstwirksamkeit zu erleben und den Selbstwert zu stärken und zu fördern. Begleitend können Entspannungsverfahren gut unterstützen, um wieder in eine innere Balance zu kommen. Bei den Erwachsenen würde man von Work-Life-Balance sprechen. Im Rahmen einer Therapie wird der Bereich der Selbstfürsorge stark betont. Wenn das nicht ausreicht und man das Gefühl hat, dass man mit den ambulanten Methoden nicht weiterkommt, wäre eine stationäre oder teilstationäre Aufnahme in Betracht zu ziehen. 

Wie geht es den Kindern, wenn sie bei Ihnen in der Klinik ankommen, und was können Sie ihnen über die ambulanten Therapien hinaus anbieten? 
Unser erster Schritt ist, die richtige Diagnose zu stellen, zu schauen, ob es Mehrfacherkrankungen gibt, und dann eine individuelle Behandlungsplanung für die Patienten und Patientinnen aufzustellen. Dann geht es darum – was aber auch viele ambulante Behandler machen –, erstmal ein Störungsverständnis zu entwickeln. Viele der Patientinnen und Patienten haben so viele selbstabwertende Gedanken und schämen sich in Grund und Boden, dass sie jetzt in einer Klinik sind, dass sie überhaupt Hilfe in Anspruch nehmen müssen. Deshalb muss man zunächst dafür sensibilisieren, dass es ein Burnout oder eine hochfunktionale Depression auch im Kindes- und Jugendalter gibt und was das bedeutet. Dann üben wir konkrete Strategien im Umgang mit der Erkrankung ein. Parallel finden die bereits oben genannten Dinge statt sowie gegebenenfalls auch eine unterstützende Behandlung mit Medikamenten statt.

Häufig ist es erforderlich, dass es ein sicheres, strukturiertes Setting für die Kinder und Jugendlichen im Rahmen einer Klinik gibt. Wir haben hier ganz andere Möglichkeiten, was die Frequenz von Therapie angeht – wir bieten zwei bis drei Einzeltherapien pro Woche an, das kann ein ambulanter Behandler gar nicht leisten. Und natürlich, was Spezialtherapien angeht, bei denen entspannungsorientierte Verfahren und die Aktivierung eine Rolle spielen. Hinzu kommen unterstützende Angebote des Pflege- und Erziehungsdienstes. Wir unterstützen beispielsweise bei Themen wie Schlafhygiene oder der regelmäßigen Einnahme von Mahlzeiten. 

Wie lange bleiben die Kinder und Jugendlichen in der Klinik?  
Das ist sehr unterschiedlich und daher schwierig zu beantworten. Die Patienten und Patientinnen sind mindestens zwölf Wochen bei uns. Der Aufenthalt kann aber auch länger sein.

Zwölf Wochen mindestens, das ist eine lange Zeit…
Ja, das hängt damit zusammen, dass wir erstmal den Fokus auf den Aufbau einer tragfähigen therapeutischen Beziehung legen. Gerade Patientinnen und Patienten mit einem Burnout sind sehr schambehaftet in ihrer Symptomatik und haben Sorge, über die innerlichen Gedanken, die sie plagen, ins Gespräch zu kommen. Eine wichtige Grundvoraussetzung dafür ist, dass sie sich sicher fühlen und der Therapieraum eine vertrauensvolle Umgebung für sie darstellt. Das ist ein Prozess, der etwas länger dauert. 

Wie können Familien einem Burnout bei ihren Kindern vorbeugen? Was raten Sie Eltern?
Wichtig ist, dass die Eltern nicht zu überhöhte Leistungsanforderungen an die Kinder stellen. Dass es Lob und Wertschätzung auch außerhalb von schulischen Leistungen gibt. Wenn der Verdacht auf ein Burnout besteht, sind wiederkehrende Gesprächsangebote wichtig, ein Signal, dass man da ist. Dann geht es darum, dranzubleiben, auch wenn man vielleicht zunächst zurückgewiesen wird. Dass man versucht, im Kontakt mit seinem Kind zu bleiben, dass man sich traut, offen Sorge zu äußern – und zwar nicht in Form eines Appells, sondern als Spiegelung der eigenen Gefühle. Man kann natürlich mit dem Kind auch darüber sprechen, dass es Hilfsangebote gibt, zum Beispiel in der Schule. Vielleicht gibt es dort einen Seelsorger oder einen Schulpsychologen. Oder man kann auf einen ambulanten niedergelassenen Psychotherapeuten verweisen. 

Was sind Warnsignale, bei denen Eltern das Gespräch mit dem Kind suchen und eventuell auch Hilfsmöglichkeiten anbieten sollten? 
Wenn es zu Somatisierungen kommt, wenn das Kind also zum Beispiel gehäuft über Kopf- und Bauchschmerzen klagt und der Hausarzt keine biologische, medizinische Ursache finden kann, dann wäre das für mich schon ein deutliches Alarmsignal. Auch wenn der Schlaf deutlich eingeschränkt ist, wenn das Kind weniger isst und sich sehr gestresst zeigt. Wenn man das Gefühl hat, dass es kaum Erholungszeiten gibt, dass das Kind 24/7 damit beschäftigt ist, sich selbst zu optimieren. Wenn es im Gespräch wenig zugänglich ist. Das wären für mich alles Warnsignale, es können aber auch Warnsignale für andere psychische Erkrankungen sein. 

Was antworten Sie, wenn jemand sagt, Burnout sei nur eine Trenddiagnose, die Betroffenen sollten sich nicht so anstellen, früher habe man auch kein Burnout gehabt? 
Das ist so nicht richtig. Das Phänomen Burnout hat eine lange Geschichte. Anna Katharina Schaffner, Professorin für Kulturgeschichte und Coach, beschreibt in ihrem Buch „Erschöpft? Belebende Perspektiven für müde Menschen“, dass das Grundgefühl von Erschöpfung schon lange existiert und nur das Wording sich geändert hat. Im Mittelalter gab es beispielsweise den Begriff der „Acedia“ einer geistigen Trägheit. In der Romantik war es der „Weltschmerz“.

Das zeigt, dass Burnout auch ein kulturelles Phänomen ist, ein Spiegel davon, was die Gesellschaft von uns Menschen erwartet. Gerade Jugendliche spüren häufig hohe gesellschaftliche Erwartungen auf sich lasten. Sie haben das Gefühl, dass sie permanent eine hohe Leistungsbereitschaft zeigen müssen, dass sie aufgrund der vielen Berufswahlmöglichkeiten zielgerichtet ihre Karriere planen und im Hinblick auf die Umwelt verantwortungsbewusst leben müssen. Hinzu kommen Selbstoptimierungsansprüche und Selbstinszenierungsdruck durch Social Media.

Porträt Clara Marchand

Clara Marchand ist leitende Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin an der Don Bosco Klinik und Tagesklinik der Alexianer Münster GmbH in Münster

Die Klinik ist nach dem heiligen Don Bosco benannt, steht aber nicht mit den Salesianern Don Boscos oder den Don Bosco Schwestern in Verbindung. 

So gestresst sind Kinder und Jugendliche 

Die jungen Menschen in Deutschland stehen unter enormem Druck. Das geht aus der Trendstudie „Jugend in Deutschland 2025“ hervor. 49 Prozent der Befragten im Alter von 14 bis 29 Jahren leiden unter Stress, 34 Prozent unter Erschöpfung, 32 Prozent unter Selbstzweifel und 30 Prozent unter Antriebslosigkeit. Jeder vierte junge Mensch schätzt den eigenen psychischen Zustand als behandlungsbedürftig ein. Laut dem „Deutschen Schulbarometer 2024“ der Robert Bosch Stiftung zeigen 21 Prozent der 8- bis 17-Jährigen Hinweise auf psychische Auffälligkeiten.

Auch in Österreich sind psychische Belastungen in der jungen Generation weit verbreitet. Bei einer Umfrage der Unternehmensberatung Deloitte im Jahr 2024 zeigte sich, dass den Millenials und GenZs vor allem die Deckung der Lebenshaltungskosten und die Befürchtung, der Einsatz von KI könne ihre Arbeitsplätze gefährden, große Sorgen machen. Bei mehr als 40 Prozent der Befragten trägt der Job maßgeblich zu Angstzuständen und Stress bei.


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