Emotionen

Wut tut gut – Warum auch Eltern laut werden dürfen

Unterdrückte Emotionen helfen keinem weiter, findet Pädagogin und Erziehungswissenschaftlerin Ute Müller-Giebeler. Im Gegenteil. Wenn Eltern ihre Wut richtig ausdrücken, profitieren nicht nur sie, sondern auch ihre Kinder davon.

veröffentlicht am 25.01.2023

Kinder, ob klein oder groß, schaffen es immer wieder, ihre Eltern auf die Palme zu bringen. Ist es in Ordnung, wenn Mama oder Papa dann auch mal wütend werden?
Ja, natürlich. Menschen werden nun einmal wütend und Eltern sind Menschen. Wütend zu werden, ist eine normale und wichtige Reaktion eines Menschen auf seine Umwelt. Es wäre merkwürdig, wenn ausgerechnet Eltern nicht wütend werden, denn Kinder können einen sehr herausfordern und die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse stark einschränken. Eine normale Reaktion darauf ist Wut.
 
Inwiefern tut es Eltern sogar gut, ihre Wut rauszulassen und sie nicht zu unterdrücken?
Die Frage hierbei ist: Was heißt „rauslassen“? Emotionen setzen sich aus verschiedenen Elementen zusammen. Wichtig ist, das Erleben und den Ausdruck der Emotion zu unterscheiden, und dann zwischen verschiedenen Formen des Ausdrucks zu unterscheiden. Wenn ich rufe „Ich bin super wütend. Räum Deinen Krempel von der Treppe, ich falle sonst drüber.“, ist das ein angemessener Emotionsausdruck. Wenn ich mein Kind schlage, nicht.
 
Aber generell die Emotion zu erleben, sie zuzulassen und sie auf eine Art auszudrücken, bei der ich eine Chance habe, dass der andere versteht, wie es mir geht, und kooperiert, ist für Eltern auf jeden Fall gut, denn Eltern müssen auch auf sich selbst achten. Und zugleich ist die Wut der Eltern auch für die Kinder wichtig, denn so kann soziales Lernen erfolgen. Durch die Wut der Eltern merken die Kinder, wenn sie Grenzen verletzt haben. Kinder, die zuverlässig erfahren, dass Eltern ihre Gefühle respektieren, können so lernen, dass auch die Gefühle eines anderen zählen.
 
Woher kommt die Wut bei Eltern? Was sind die häufigsten Ursachen?
Viele wissenschaftliche Perspektiven auf Wut beschreiben als Hauptursache eigene Bedürfnisse, die nicht befriedigt werden können, und eigene Grenzen, die nicht gewahrt werden. Und Kinder haben eben eine lange Phase in ihrem Leben, in der sie erst lernen, dass auch andere Personen Bedürfnisse haben, und dass diese anderen Personen brauchen, dass auch ihre Bedürfnisse berücksichtigt werden. Wut ist hierbei ein wichtiges Kommunikationsmittel, denn mein Kind versteht sofort, was mit mir los ist, wenn ich wütend bin. Das ist eine der Stärken von Emotionsausdruck – es ist eine sehr direkte Art, sich mitzuteilen.
 
Es ist aber nicht von der Hand zu weisen, dass es wohl noch weitere Ursachen für elterliche Wut gibt. In der Sozialpsychologie wird im Zusammenhang mit der Frustrations-Aggressions-Hypothese von „Aggressionsverschiebung“ gesprochen. Das bedeutet: Ich werde irgendwo in der Außenwelt frustriert, fühle mich dort als machtlose Person und agiere das in der Familie aus. Das haben wir alle vielleicht schon einmal im Kleinen erlebt: Wir hatten einen schlechten Tag im Büro, Stress mit dem Chef und das bekommen dann unsere Kinder oder unser Partner daheim ab. Gefährlich wird es, wenn diese Frustration gewaltsam ausbricht. In der Familie sind es vor allem Kinder und Frauen, die darunter leiden müssen und geschlagen werden.
 
Eine dritte Ursache kann etwas sein, für das in psychologischen Theorien das Konzept der „Projektion“ entwickelt wurde. Also wenn ich Dinge auf meine Kinder projiziere, die mir selbst als kleines Kind widerfahren sind. Aus der Kinder- und Jugendhilfe gibt es diesbezüglich schlimme Fallbeschreibungen. Nehmen wir zum Beispiel einen Vater, der sein Kind totgeschlagen hat und sagt: „Mein Sohn hat mich angeschaut wie mein eigener Vater, er wollte mich tyrannisieren, ich habe mich einfach gewehrt.“ Da wird eine alte Wut ausgelöst und eine wehrlose und auf mich angewiesene Person angegriffen, die damit überhaupt nichts zu tun hat. In solchen Fällen braucht es dringend Unterstützung.

Ist Wut generell eher weiblich oder männlich geprägt?
Es gibt eine Ungleichheit bezogen auf das Recht auf Wut und auch auf die Anerkennung von Wut bei den Geschlechtern. Seit Jahrzehnten reden wir von der partnerschaftlichen Arbeitsteilung in der Familie, aber es sind immer noch hauptsächlich Frauen, die die Care-Arbeit leisten. Und Care-Arbeit beinhaltet eine starke Bereitschaft, für andere da zu sein und eigene Bedürfnisse hintanzustellen. Wütend zu sein und für sich und seine Bedürfnisse zu kämpfen, wird Frauen leider immer noch oft abtrainiert. Studien zeigen, dass Frauen sich selbst weniger mögen, wenn sie wütend werden. Wut passt nicht zum Selbstbild einer Care-Person. Und weibliche Wut wird auch generell gesellschaftlich immer noch negativer bewertet, während männliche Wut eher als selbstbewusstes, offensives Auftreten positiv bewertet wird.
 
Viele Eltern – und nach Ihrer Ausführung zu den Geschlechtern wahrscheinlich besonders viele Mütter – haben ein schlechtes Gewissen, nachdem sie laut geworden oder explodiert sind. Wie sprechen Sie ihnen Mut zu?
Ich würde ihnen sagen: „Seien Sie nachsichtig mit sich selbst.“ Das ist einfach das Leben, dass ich mal laut und wütend werde und mich auf der Palme ganz oben wiederfinde. Es ist auch nicht sinnvoll, seine Wut zu unterdrücken. Wie vorhin schon erwähnt: Kinder lernen an meinem Beispiel. Wenn ich mich als Elternteil ständig schäme und schuldig fühle, weil ich wütend geworden bin, denkt auch das Kind, es sei böse, wenn es wütend wird. Elterliche Wut ist vollkommen in Ordnung. Es gibt allerdings zwei Punkte, die dabei zu beachten sind:

  1. die Ich-Botschaft: Die Wut darf raus, aber nur in Bezug auf das eigene Empfinden und die konkrete Situation. Das Kind darf nicht denken, dass es als Person abgewertet wird. Konkret kann das so aussehen, dass ich zu meinem Kind, das sehr laut Musik hört, wütend rufe: „Das ist zu laut. Das halte ich nicht aus, mach die Musik bitte leiser.“ Verkehrt wäre es, zu rufen: „Du böses, schlechtes Kind! Was stimmt mit Dir nicht, dass Du so laut Musik hören musst?“ Kinder dürfen nicht das Gefühl bekommen, dass sie oder eine persönliche Eigenschaft das Problem sind. Hier geht es um ein Verhalten und das kann man ändern, indem man zum Beispiel die Musik leise dreht. Man darf als Mama oder Papa also wütend sein, seinen Affekt da reinlegen und auch mal laut werden, aber die Ich-Botschaft ist wichtig – und das kann man üben.
     
  2. die ehrliche Entschuldigung: Wenn ich wahrnehme, dass ich mein Kind in einem Wutanfall doch einmal auf eine unangemessene Weise angegriffen habe, entschuldige ich mich. Kinder sind ausgesprochen tolerant und entgegenkommend, wenn sie spüren, dass Mama oder Papa die richtige Haltung haben und Verantwortung für ihre Gefühle übernehmen.
Ute Müller-Giebeler

Ute Müller-Giebeler ist Professorin für Familienbildung an der Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften der Technischen Hochschule Köln. Sie arbeitet für Familienbildung als einen Raum des Austausches, in dem Eltern für sich bestimmen und üben können, was „gutes Leben in der Familie“ für sie ist.


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