Ratgeber

Wie Eltern ihre Wut in den Griff bekommen

Nicht nur Kinder haben Wutanfälle, Mamas und Papas auch – und das gar nicht mal so selten. Die Wiener Elternberaterin Sandra Teml erklärt anhand typischer Situationen, wie die eigene Wut konstruktiv umgewandelt werden kann.

veröffentlicht am 25.01.2023

Situation 1: Das streikende Kleinkind am Morgen

Es ist 7:20 Uhr – in spätestens zehn Minuten muss die Familie aus dem Haus, um rechtzeitig zum Kindergarten zu kommen. Doch der dreijährige Sohn hat andere Pläne. Er will sich partout die Schuhe nicht anziehen lassen und rennt immer weg, sobald man versucht, ihm in die Jacke zu helfen. Der Papa erklärt ihm zunächst noch einigermaßen ruhig, warum sie sich jetzt beeilen müssen. Gleichzeitig merkt er, wie die Wut in ihm hochsteigt, da ihm die Zeit im Nacken sitzt. Er ist kurz davor, seinen Sohn laut anzuschreien. Was kann er tun, damit der Start in den Tag nicht gleich mit Gebrüll beginnt?
 
Sandra Teml: Wenn Papa schon so geladen ist, kann er wahrscheinlich nicht mehr zurück zum Start. Der emotionale Zug ist buchstäblich abgefahren. Wenn er das erkennt, kann er insofern die Notbremse ziehen, indem er zum Beispiel den Prozess an Mama übergibt – um Schlimmeres zu verhindern und um sich abzukühlen. Das gelingt, wenn Mama und Papa ein gut eingespieltes Team sind und vereinbart haben, dass eine/r übernimmt, wenn der/die andere in den roten Bereich abgleitet. Dann kann der/die andere das tun, was in Leitsituationen wie dieser zu tun ist: Tempo reduzieren, in Kontakt gehen, einen klaren Anfang setzen, sagen, was erreicht werden soll, das Kind Schritt für Schritt anleiten, mit dem Frust des Kindes umgehen, benennen, was im Kind vorgeht, ein klares Ende setzen.
 
Wichtig: Erklärungen und noch mehr Druck verlangsamen den Prozess. Hier gilt: Wenn du es eilig hast, gehe langsam!
 

Situation 2: Das unaufgeräumte Teenie-Zimmer

Das Zimmer eines Jugendlichen muss nicht picobello aufgeräumt sein. Trotzdem wäre es schön, wenn man den Boden unter den überall verteilten Haufen dreckiger Klamotten noch erkennen würde, Essensreste nicht vor sich hinschimmeln und die Schulsachen in dem Chaos nicht komplett untergehen. Fast jeden Tag diskutiert die Mama mit ihrer 15-jährigen Tochter, warum es Sinn macht, ein wenig Ordnung im Zimmer zu schaffen und die Dreckwäsche einfach mal in den Wäschekorb zu legen. Doch jede Ermahnung läuft ins Leere. Die Mutter spürt: „Gleich explodiere ich.“ Darf sie ihrer Tochter zeigen, wie wütend sie ist?
 
Sandra Teml: Das gewünschte Ergebnis macht Sinn – aus der Perspektive der Mutter, aus der Sicht der Tochter gar nicht. Die mütterlichen Inhalte werden ebenso wenig aufgegriffen, wie alles andere, das herumliegt. Mutters Explosion wird aller Wahrscheinlichkeit halber nichts am äußeren Chaos ändern, sondern möglicherweise noch mehr inneres Chaos erzeugen. So erreicht die Mutter ihre Tochter nicht. Möglicherweise hat auch das schon eine 15-jährige Beziehungshistorie. Ich biete einige Reflexionsfragen für die Mutter an: Welche Geschichte erzähle ich mir in meinem Kopf, wenn ich wütend werde? Wenn ich die Szene in Zeitlupe nochmals durchgehe – was passiert kurz vor der Wut in mir? Was mache ich, wenn sich meine Tochter nicht bewegt? Kann ich mich bewegen, ohne mich als Opfer zu fühlen? Warum erreiche ich meine Tochter nicht? Wie kann ich sie erreichen? Warum kooperiert meine Tochter nicht? Wo kooperiert sie? Was haben wir für eine Beziehung? Wie geht es mir eigentlich?
 

Situation 3: Die gefürchtete Supermarkt-Kasse

Die Lebensmittel sind im Wagen verstaut, der Einkauf mit den Kindern hat einigermaßen konfliktfrei geklappt, doch dann macht die Warteschlange an der Kasse dem Papa einen dicken Strich durch die Rechnung. Schön auf Augenhöhe der Kleinen sind dort Überraschungseier arrangiert, direkt neben kleinen Tüten mit Gummibärchen und klappernden tic tac-Dosen. Und der Stress beginnt: Die fünfjährige Tochter will unbedingt etwas von den Süßigkeiten haben, der Papa sagt „nein“ und es folgt der vielen Eltern bekannte Trotzanfall an der Supermarkt-Kasse. Die Tochter schmeißt sich auf den Boden, schreit, will nicht weitergehen und hält den ganzen Betrieb auf. Der Vater wird wütend, fühlt sich von den anderen Einkaufenden beobachtet. Wie kann er seine Wut in solch einer Situation am besten regulieren?
 
Sandra Teml: Alles ist besser, als Beziehungsschaden anzurichten oder: Chose your battles wisely! Wenn dieser Vater weiß, dass es ihm unter den Blicken der anderen nicht gelingen wird, cool zu bleiben, ist es vielleicht klüger, Gummibärchen zu kaufen. Wesentlich dabei ist, was er während des Kaufs über seine Tochter denkt – denn das kann seine Tochter in ihm wahrnehmen, in ihm lesen. Fühlt sich der Vater als Opfer seiner Tochter, dann macht er sie schuldig und verantwortlich für seinen Zustand: „Immer dasselbe Theater! Die nehme ich nicht mehr mit zum Einkaufen!“ Denkt er aber „Mir gelingt es nicht, den Blicken standzuhalten und mich zu beruhigen. Die Gummibären sind jetzt in dieser Situation der kleinere Preis, den ich bezahle. Lieber Gummibären als Papamonster!“, dann übernimmt er für diese Situation die Verantwortung. Und weiß vielleicht, dass er an einem anderen Tag, unter anderen Umständen anders gehandelt hätte.

Situation 4: Die bewusste Provokation

Freche Kommentare, komplettes Ignorieren der Eltern und zusammen aufgestellter Regeln – der 16-jährige Sohn schafft es jedes Mal, seine Mutter oder seinen Vater gekonnt zu provozieren und sie so zur Weißglut zu bringen. Jugendliche müssen und dürfen in ihrer Pubertät rebellieren, klar. Aber die Eltern dürfen sich von ihren Kindern doch auch nicht alles gefallen lassen, oder? Ist die elterliche Wut berechtigt und wie kann sie in die richtigen Bahnen gelenkt werden?
 
Sandra Teml: Wenn unser Kind 16 Jahre alt ist, ist unsere Erziehung vorbei. Diese Eltern möchte ich gerne einladen, einen Schritt zurück zu gehen, und ihren Sohn als eigenständigen Menschen zu sehen, anstatt sich mit ihm noch mehr durch sinnentleerte Wortgefechte zu verstricken. Ein Krieg endet, in dem eine/r aufhört, zu kämpfen. Ich hoffe, es sind in diesem Fall die Eltern. Hier braucht es Beziehungsarbeit – vielleicht auch ein Coaching, einen Blick von außen: Was ist hier los? Worum geht es? Wie ist es so weit gekommen? Was ist die Absicht meines Sohnes? Warum tut er, was er tut? Wie sinnvoll sind meine Regeln? Wo stelle ich Regeln auf, anstatt meinem Sohn zu vertrauen?
 
Wichtig: Alle Eltern werden wütend, weil die Realität anders ist als ihre jeweiligen Vorstellungen (von ihren Kindern). Ihre Erwartungen werden enttäuscht. Wie gehen sie mit Enttäuschungen um? Wie sind ihre Eltern mit Enttäuschungen umgegangen? Dürfen Eltern enttäuschen? Wie schnell finden Eltern wieder in ihre Mitte und wie hoch ist ihre Frustrationstoleranz? Erst, wenn ich mich mit der Realität angefreundet habe, kann ich nächste sinnvolle Schritte einleiten, mir was Neues überlegen.

Sandra Teml

Sandra Maria Teml-Jetter (53) ist Eltern- und Familienberaterin sowie Co-Autorin des Buches „Mama, nicht schreien“. In ihrer Wiener Praxis „Wertschätzungszone“ hilft sie Eltern, zu sich selbst zu finden, damit sie ihre Kinder selbstbewusst durchs Leben begleiten können.

6 Tipps, wie ich als Mama oder Papa am besten mit der eigenen Wut umgehe

  1. Erkennen, dass ich wütend werde.
  2. Wenn möglich, mich selbst in dem stoppen, was ich automatisch tun würde (schreien, schimpfen, mit Sachen schmeißen) und ggf. den Prozess an einen anderen Erwachsenen übergeben.
  3. Entschleunigen und forschen: Was ist da passiert? Was hat das mit mir zu tun?
  4. Im Ruhezustand Alternativen für das nächste Mal entwickeln. Denn: Das nächste Mal kommt bestimmt!
  5. Auch das geht vorbei! Eine emotionale Welle dauert 90 Sekunden, wenn wir sie nicht durch unsere Gedanken immer wieder selbst erzeugen. Beziehung ist wichtiger als Prinzipien!
  6. Sich von Erwartungen verabschieden und sich mit der Realität anfreunden. Nach dem Motto: Beklage dich nicht über den Regen, sondern spann den Regenschirm auf!

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