Freizeit

Spiel mit! Was das Spielen für Kinder und Erwachsene bedeutet

Bauklötze auf dem Spielteppich oder Pixelblöcke am Computer stapeln, bei einem Brettspiel oder auf dem Fußballplatz um den Sieg wetteifern: Wir alle spielen auf die eine oder andere Weise. Aber weshalb?

veröffentlicht am 18.05.2022

Der vierjährige Elias* sitzt mit seinem Freund Lukas* auf dem blauen Teppich in der Bauecke der Pinguingruppe der Kindertagesstätte Don Bosco im oberbayerischen Benediktbeuern. Aus flachen fünfeckigen Magneten baut er eine kantige gelbe Kugel, etwa so groß wie ein Handball. „Der Ball muss dann auf den Turm“, erklärt er und meint den ebenfalls aus Magneten bestehenden lila-grünen Quader neben ihm. Währenddessen baut sein Freund Lukas aus den gleichen Elementen eine enge Garage um ein Auto. „Ich und der Elias sind beste Freunde“, sagt der ebenfalls Vierjährige. „Wir sind immer zusammen in der Bauecke.“

Zwei Kindergartengruppen und zwei Krippengruppen gibt es in der Kindertagesstätte der Don Bosco Schwestern. In der Pinguingruppe spielen an diesem Vormittag 22 Kindergartenkinder mit allem, was ihnen zur Verfügung steht: Ein Kind „staubsaugt“ in der Puppenecke, andere bauen eine riesige Holzeisenbahn, viele Mädchen und Jungs malen an einem Tisch in der Raummitte und in einem Nebenraum. Freispiel nennen Pä­da­gogen diese Zeit, in der nicht konkrete pädagogische Angebote wie Basteln oder Vorschularbeit im Zentrum stehen. „Im Freispiel sucht einfach jedes Kind sich seine Spielpartner und das Material, das ihm gefällt“, führt die Leiterin der Kindertagesstätte, Schwester Irene Eisenreich, aus. Auch wenn ihnen einmal weniger zur Verfügung steht, finden die Kindergartenkinder immer etwas, mit dem sie spielen können. Bei Ausflügen in den Wald würden Hackschnitzel zu Pommes oder Blätter zu Gemüse, berichtet Eisenreich. „Ich finde das wichtig, dass Kinder auch lernen, nicht nur mit den vorgegebenen Teilen zu spielen, die ihnen serviert werden, sondern einfach selber kreativ zu sein“, betont sie.

Der Königsweg des Lernens

Eineinhalb Wochen später in einem großen Raum im zweiten Stock des Hannibaltrakts in Salzburg. Über Marionettentheater und Kammerspielen befinden sich die Räume des Instituts für Spielforschung der Universität Mozarteum. An einem Tisch in der Mitte eines hellen, hohen Raumes sitzt zwischen alten Gemälden mit karten- und schachspielenden Menschen Institutsleiter Rainer Buland und erklärt, warum die Evolution das Spiel hervorgebracht hat.

Einfachere Tiere wie Ameisen handeln dem Professor zufolge nach bestimmten Verhaltensprogrammen. „Eine Ameise kann sich nicht aussuchen, ob sie jetzt an ihrem Ameisenbau baut oder Völkerball spielt“, führt er aus. Besonders bei Säugetieren und Vögeln habe sich im Lauf der Zeit ein komplexeres Nervensystem herausgebildet. Was zu einem weniger festgelegten Verhalten führte, machte das Lernen notwendig. Junge Tiger etwa müssten lernen, wie man Beute fängt, betont Buland. „Und das lernen sie am schnellsten im Spiel.“ Spielen sei „der Königsweg des Lernens“, sagt er.

Doch was ist Spielen eigentlich? „Das Interessante dabei ist, dass wir im Deutschen einen Namen haben, das kurze Wort ‚Spiel‘, das vier Spielformen umfasst, die ganz verschieden sind“, macht Buland deutlich. Im Englischen gebe es hierfür vier unterschiedliche Begriffe: Das englische „sports“ meint Bewegungsspiele, also alles vom kindlichen Fangenspielen bis zu Fußball und Tischtennis. „Games“ sind Brettspiele und andere in Spielzügen organisierte Spiele. Das kreative Spielen, also das Rollenspiel im Kindergarten ebenso wie die Schauspielerei oder das Spielen eines Instruments, fällt unter den Begriff „play“. Glücksspiele, die mit hohen Gewinnen locken und kaum Einflussmöglichkeiten bieten, englisch „gambling“, sind eine weitere Variante. Das Glücksspiel ausgenommen, bieten alle Spielformen eigene Vorteile für uns. So sind „sports“ unter anderem hervorragend geeignet, um körperlich fit zu bleiben. „Games“ erleichtern es uns, Wissen zu erwerben. Und im „play“ können wir Verhaltensweisen kennenlernen und einüben. Kinder haben laut Buland die Fähigkeit, besonders viel in relativ kurzer Zeit zu lernen, wobei ihnen die spielerische Herangehensweise hilft. Aber auch Erwachsene lernen weiterhin durch Spielen. „Je länger wir uns das Spiel erhalten, desto besser“, stellt der Experte klar.

Am gleichen Tag ebenfalls in Salzburg haben sich die elfjährigen Zwillingsschwestern Julia und Laura gemeinsam mit ihren Eltern Agata und Peter am Esstisch ihrer Wohnküche zu einer Runde Kniffel zusammengefunden. Bei dem Spiel geht es darum, mit fünf Würfeln in drei Versuchen eine möglichst gute Kombination zu treffen und so nach und nach in 14 Kategorien die meisten Punkte zu sammeln. Der namensgebende Kniffel etwa bringt 50 Punkte und besteht aus fünf beliebigen gleichen Zahlen. Etwa einmal pro Woche sitzt die Familie gemeinsam hier oder auf dem Balkon. Neben dem Würfelklassiker bringen sie besonders gerne Uno, Klartext und Monopoly auf den Tisch.

Heute entwickelt sich um den schwarzen Würfelteller mit grünem Filzuntergrund eine ganz eigene Dynamik. Meist fiebern alle bei den Würfen der anderen mit, machen Vorschläge und diskutieren die nächsten Schritte. Als Agata im dritten Versuch tatsächlich den heiß ersehnten Kniffel wirft, schreien alle laut auf – Mama und Papa aus Freude über den seltenen Erfolg, Julia und Laura auch, weil sie den eigenen Sieg in Gefahr sehen. Am Ende ist es aber Peter, der das Spiel für sich entscheidet – ganz ohne Kniffel.

Alle vier genießen die gemeinsame Zeit ohne Handy, Computer und Fernsehen. „Man kann einfach relaxen. Und man kann beim Spielen auch lässiger reden“, sagt Julia. Das Spielen lenke auch ab von stressigen Dingen im Alltag wie anstehenden Prüfungen in der Schule.

In der Familie sei gemeinsames Spielen „unglaublich wichtig“, sagt Spielforscher Rainer Buland. „Wir lernen uns dabei gegenseitig in ganz neuer Weise kennen.“ Für Kinder sei es unglaublich spannend, den Vater bei einem Brettspiel einmal „so richtig reinzuhauen“ und seine Reaktion zu beobachten. „Im Spiel haben wir ein Feld, wo wir auf gleicher Augenhöhe sind“, erklärt er. Anders als im Alltag, wo Eltern Verantwortung für ihre Kinder tragen und Vorgaben machen. Die Als-ob-Interaktion im Spiel helfe uns, „dass wir uns in neuer Weise kennen­lernen“.

Besser mit Krisensituationen umgehen

Die Zwillinge Julia und Laura spielen nicht nur mit ihren Eltern am Esstisch. Fast täglich treffen sie draußen ihre Freunde aus der Nachbarschaft. Dann spielen sie Räuber und Gendarm, Verstecken oder Fußball. Auch mit dem Hund der Nachbarn spielen die beiden gerne. Die Eltern sitzen dann manchmal mit Kaffee auf dem Balkon und duellieren sich bei einer Runde Kniffel oder Schach. Und am Wochenende dürfen Laura und Julia auch am Computer spielen, etwa eine Stunde pro Tag. Am liebsten treffen sie sich auch dort online mit ihren Freunden, um gemeinsam zu spielen. Weil das aber schnell von den Hausaufgaben oder der Vorbereitung auf die nächste Prüfung abhalten kann, finden sie die Einschränkung auf je eine Stunde samstags und sonntags auch gut. Trotzdem stellt Laura klar: „Manchmal nervt die Regel.“

Auch beim Spielen mit ihren Freunden können die Mädchen sich und verschiedene Dinge austesten. Dieses Ausprobieren lehrt vielfältig spielende Menschen Wissenschaftler Buland zufolge auch, wie man besser mit Krisensituationen umgeht. „Sie wissen aus Spielen immer, dass es eine Lösung gibt, aber vielleicht auch eine andere“, führt er aus.

Der 1968 verstorbene Theologe Hugo Rahner geht noch einen Schritt weiter. In seinem Buch „Der spielende Mensch“ sieht er das Spiel als „schwebende Haltung zwischen Heiterkeit und Ernst“ und macht darin „eine Antizipation des Himmlischen“ aus. Denn nicht nur der Mensch spielt, auch die Schöpfung der Welt interpretiert Rahner als spielerischen Akt Gottes. Wenn uns also Spiel „echt und ernst“ gelingt, wie Rahner schreibt, zeigt sich darin ein Stück von dem, was wir Himmel nennen. Spielforscher Rainer Buland leitet daraus auch eine ­Aufforderung an uns ab: „Wenn wir das so auffassen, dann können wir uns erlauben, viel mehr zu spielen“, regt er an.

* Namen von der Redaktion geändert


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