Hilfe für die Seele

Kein Tabu mehr: Wenn Kinder und Jugendliche psychisch erkranken

Auch Kinder leiden seelisch. Corona hat das noch verschärft. Für die Wiener Kinder- und Jugendpsychiaterin Katrin Skala ist klar: Es braucht mehr Fachärzte und Therapieangebote. Denn psychische Erkrankungen müssen frühzeitig behandelt werden.

veröffentlicht am 20.02.2023

Pandemie, Krieg, Klimawandel: Diese Themen verursachen nicht nur bei Erwachsenen große Ängste und Sorgen. Inwiefern sind sie auch für den Anstieg von psychischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen verantwortlich?
Sie fragen hier nach der Kausalität, also dem Ursache-Wirkungsprinzip. Das kann man natürlich nicht eindeutig belegen, ich kann aber meine Einschätzung aus der Praxis äußern. Wir hatten im Herbst 2020 eine massive Zunahme der Magersuchterkrankungen und eine große Zahl der betroffenen Jugendlichen hat erzählt, dass sie im ersten Lockdown nicht zunehmen wollten, weniger gegessen, intensiv bei Online-Turnprogrammen mitgemacht haben und so in die Erkrankung gerutscht sind. Da besteht also für mich schon eine Kausalität.
 
Ungefähr im Herbst 2021 begann dann ein extremer Anstieg von Depressionen. Die Jugendlichen sind monatelang nur daheim gewesen, konnten nichts tun, was ihnen Spaß macht und hatten oft nur den Online-Unterricht als Kontakt nach außen. Dadurch hat man die Jugendlichen quasi in eine depressive Symptomatik hineingezwungen. In der Adoleszenz muss man sich mit den Eltern reiben. Man muss hinaus in die Peergroup, um sich mit Freunden darüber aufregen zu können, wie blöd die Eltern doch sind. Das war aber nicht möglich. Die Kinder waren mit den Eltern zusammengesperrt und haben teilweise gespürt, dass die Eltern auch am Limit waren. Viele Jugendliche halten sich dann zurück und fressen ihre Aggressionen in sich hinein – und Aggression und Depression hängen ja eng zusammen. Auch hier scheint eine Kausalität wahrscheinlich.
 
Sie haben sich jetzt stark auf die Pandemie bezogen. Inwiefern belasten Kinder und Jugendliche auch die Themen Krieg und Klimawandel?
Grundsätzlich reagieren Kinder je nach Alter sehr unterschiedlich. Je jünger, desto weniger Abstraktionsfähigkeit besitzen die Kinder. Klimawandel und Krieg sind für jüngere Kinder noch so abstrakt, dass es ihnen weniger psychischen Stress bereitet als etwas, was direkte Auswirkungen auf ihr Leben hat.
 
In der Adoleszenz, je nach Reifegrad und Intellekt, setzen sich Jugendliche auch mit solchen Themen stärker auseinander. Aber viele reagieren dann mit Aktionismus, gehen auf die Straße und demonstrieren oder engagieren sich anderweitig – und das ist befreiend. Sie haben zwar Sorgen, aber es blockiert sie nicht psychisch. Jedenfalls habe ich das bei uns im Krankenhaus bislang noch nicht erlebt.
 
Welche psychischen Erkrankungen haben bei Kindern und Jugendlichen in den letzten zwei Jahren signifikant zugenommen?
Depressionen, Magersucht, Drogenkonsum und Suchtprobleme und Suizidalität im Jugendalter. Wenn man es wieder konkret auf die Corona-Pandemie bezieht, kann man auch feststellen, dass die kleineren, aber ganz konkreten Ängste zugenommen haben: die Angst, dass die Großeltern sterben könnten, die Angst, dass die Schulen wieder schließen, die Angst, die Freunde nicht mehr treffen zu können.

Psychische Erkrankungen haben zugenommen. Entspricht das Angebot von Fachärzten und Therapien dem aktuellen Bedarf?
Nein, nicht annähernd. In Wien gibt es zwei Krankenhäuser – unser Uniklinikum und das Krankenhaus Rosenhügel. Die beiden Krankenhäuser zusammen haben eine Bettenanzahl, die weit unter dem OECD-Schnitt liegt. Wir haben aktuell eine Bettenmessziffer von 0,05 Betten/1.000 Einwohnern und Einwohnerinnen, was unter den vom Österreichischen Strukturplan Gesundheit vorgegebenen Planungsrichtwerten liegt und dem – durch die Pandemie weiter angestiegenen – realen Bedarf nicht entspricht. Das heißt, wir sind maximal unterversorgt. Was die Therapie betrifft, sind fast alle Therapeuten überbucht und es gibt viel zu wenige kassenfinanzierte Angebote. Wenn man einen ambulanten Termin möchte, muss man oft ein halbes Jahr warten.
 
Was fordern Sie diesbezüglich von der Politik? Was müsste sich ändern?
Ich fordere so ungern, ich wünsche mir lieber etwas. Mein Wunsch wäre es, die Arbeitsbedingungen im Krankenhaus generell besser zu gestalten. Das medizinische Personal ist am Limit. Und natürlich geht es da auch um das liebe Geld, um Ausbildungsplätze für Fachärzte zu schaffen und Kassenpraxen zu fördern.
 
Lange Zeit hat man sich geschämt, eine psychische Erkrankung zuzugeben. Aus Ihrer Sicht als Kinder- und Jugendpsychiaterin: Hat sich das geändert? Gehen die Eltern heute offener mit der Erkrankung ihrer Kinder um?
Ja, auf jeden Fall, aber vor allem gehen die Kinder und Jugendlichen viel offener damit um. Auf TikTok gibt es einen richtigen Trend, komplett ohne Tabus über psychische Krankheiten zu sprechen, über die eigene Bulimie etc. Das ist fast schon wieder alarmierend, denn es erweckt manchmal den Eindruck: Wer gesund ist, der ist eher fad. Hier scheint das Pendel gerade in die Gegenrichtung auszuschlagen, das gilt es, zu beobachten.
 
Was raten Sie Eltern, die Hemmschwellen haben, mit ihrem Kind einen Psychologen aufzusuchen?
Ich kann nur raten, diese Hemmschwellen zu überwinden. Das Kind leidet, das darf man als Eltern nicht ignorieren. Es ist wirklich wichtig, psychische Erkrankungen so bald wie möglich zu behandeln, um eine Chronifizierung zu vermeiden. Eltern tragen hier die Verantwortung dafür, so gut wie möglich dazu beizutragen, dass ihr Kind auch als Erwachsener ein gesundes Leben führen kann. Es ist auch wichtig, klarzustellen, dass alle Behandlungsschritte – jeder Therapieansatz oder eine mögliche Medikation – immer mit den Eltern und den Kindern gemeinsam besprochen werden.
 

Katrin Skala (47) ist leitende Kinder- und Jugendpsychiaterin am Wiener Universitätsklinikum. Ihr Fachgebiet sind die Akutpsychiatrie und Suchterkrankungen. Seit mehr als zehn Jahren betreut sie Kinder und Jugendliche, die aus den unterschiedlichsten Gründen psychisch erkranken.


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