Hilfe und Unterstützung

Wie sich Schulangst besiegen lässt – ein Erfahrungsbericht

Ein flaues Gefühl im Bauch, Tränen am Morgen, panischer Rückzug – für Kinder und Jugendliche mit Schulangst ist der Alltag ein Kraftakt. Doch mit Geduld, Verständnis und guter Begleitung kann der Weg zurück ins Leben gelingen.

veröffentlicht am 02.09.2025

Hendrik von Drachenfels erlebt seine Jugendzeit in den frühen 2000er Jahren. Er spielt Hockey, ist beliebt und hat immer einen coolen Spruch parat. Niemand hätte damals damit gerechnet, dass er von einem Tag auf den anderen keinen Fuß mehr in die Schule setzen würde. Er selbst erinnert sich noch gut an den Tag, als seine Angst die Oberhand gewann.

„Ich saß im Unterricht als mir plötzlich schlecht wurde. Ich dachte, ich müsste mich übergeben, wollte nur noch raus.“ Doch die Lehrerin lässt ihn nicht, meint, er könne noch bis zum Ende der Stunde durchhalten. Hendrik erlebt die 20 Minuten wie in Gefangenschaft. Als es endlich klingelt, schnappt er sich seinen Rucksack und rennt aus der Schule. Es soll ein ganzes Jahr dauern, bis er zurückkehrt.

In der Theorie wird zwischen Schulangst und Schulphobie unterschieden. Schulangst entsteht zum Beispiel durch Prüfungsdruck, Konflikte mit Lehrkräften oder Mobbing. Schulphobie hingegen hat ihre Ursachen meist außerhalb der Schule. Kinder verweigern dann den Schulbesuch, weil sie sich von ihren Bezugspersonen nicht lösen können oder das Gefühl haben, zuhause unersetzlich zu sein.

Bei Hendrik von Drachenfels kamen Schulangst und Schulphobie zusammen 

„Bei mir kam damals beides zusammen und das ist häufig der Fall“, sagt Hendrik von Drachenfels heute. Er, der nach außen hin so gut klar kommt, kämpft eigentlich mit vielen Sorgen. Da ist die Pubertät mit ihren Herausforderungen und Problemen. Hinzu kommt die Trennung seiner Eltern, die noch ganz frisch ist und alles durcheinanderwirft.

Als ihr Sohn auch an den darauffolgenden Tagen nicht zur Schule will und weiter über Übelkeit klagt, lässt seine Mutter ihn durchchecken. Körperlich gibt es Entwarnung und doch bleiben die morgendlichen Diskussionen. „Meine Mutter schwankte zwischen Verständnis und Hysterie“, erinnert sich Hendrik. Sie fühlte sich allein mit der Situation.

Und so setzt sie alle Hebel in Bewegung, um Hilfe zu finden. Schon bald kann Hendrik eine Therapie beginnen, die ihm sehr hilft. „Ich lernte meine Ängste zu verstehen und einzuordnen. Die Angst vor der Schule aber blieb. Sie fühlte sich wie eine echte Gefahr an. Mein Zuhause war dagegen ein sicherer Hafen.“

In der ersten Zeit bringen die Mitschüler die Hausaufgaben vorbei 

In der ersten Zeit seiner Abwesenheit, bringen Mitschüler seine Schulaufgaben vorbei. Sie fragen: „Wann kommst du wieder?“ Bald ist klar, dass das so schnell nicht sein wird. Und während Hendrik zu Hause lernt, schläft der Kontakt zu den Schulfreunden ein. Auf Anraten seiner Therapeutin geht er nachmittags weiter zum Hockey, um nicht ganz zu vereinsamen.

In Deutschland gibt es nicht nur eine Schul-, sondern auch eine Anwesenheitspflicht. Es ist klar, dass Hendrik trotz einer Krankschreibung nicht ewig zu Hause bleiben kann. „Zu meinem großen Glück, habe ich einen Schulbegleiter bekommen. Jeden Morgen holte er mich zu Hause ab, begleitete mich, soweit ich kam. Am Anfang war das bis etwa 150 Meter vor dem Schultor. Da stand ein Baum und ab da konnte ich nicht mehr weiter.“

Lange Wochen erhält Hendrik Einzelunterricht. Ganz behutsam erhöht sein Begleiter den Druck. Und tatsächlich kommt der Tag, an dem Hendrik nicht mehr am Baum Halt macht, sondern weitergeht und schließlich das Schulgebäude betritt. Hier bekommt er einen separaten Raum zum Lernen. Immer wieder üben sie auch den Weg zum Klassenzimmer und irgendwann geht Hendrik zum ersten Mal hinein.

Rückschläge bleiben nicht aus, aber der Jugendliche überwindet sie

Der Pädagoge bleibt dran. „Er wusste, ich liebe Sport. Und so führte er eine Punktetabelle ein: Für eine Sportstunde, an der ich teilnahm, gab es einen Punkt, für Mathe sechs. So sammelte ich Punkte gegen die Angst.“ Auch Rückschritte bleiben nicht aus: „Einmal fragte jemand, ob mein Begleiter ein Psychiater sei. Das hat mich zurückgeworfen, weil ich dachte, sie sehen in mir nur den Psycho.“

Doch nach und nach überwindet Hendrik jeden Rückschlag und sitzt drei Monate vor Schuljahresende endlich wieder durchgehend im Unterricht. Ohne Notenstress, ohne Druck – dafür in der vertrauten Gemeinschaft. Es ist ohnehin klar, dass er die Klasse wiederholen wird, und so heißt es erstmal: ankommen und Sicherheit gewinnen.

Mit Zeit, Mut und der richtigen Unterstützung hat Hendrik seinen Weg zurück geschafft, macht später sein Abitur und studiert Lehramt. Lange hat er sich für seine Geschichte geschämt. Doch heute weiß er: „Es ist eine Erfolgsstory, die ich teilen möchte, um anderen Betroffenen zu helfen.“ Das tut er als Grundschullehrer, der genau hinschaut, in Vorträgen und als Autor seines autobiographischen Romans „Irgendwas in mir“.

In einem autobiografischen Roman erzählt Hendrik seine Geschichte 

Das Buch erzählt Hendriks Geschichte anhand des 13-Jährigen Hugo, der mit Schulangst und dem Erwachsenwerden kämpft. „Es ging mir vor allem darum, sein Innenleben und seine Gefühle deutlich zu machen, damit Erwachsene sie besser nachvollziehen können.“ Gerne würde er seinen Roman auch als Lektüre im Deutschunterricht sehen, um Jugendliche über das Thema aufzuklären.

„In der Lehrerausbildung kommt Schulangst nicht vor“, bedauert er. Umso wichtiger ist dem Grundschullehrer, gemeinsam mit den Eltern präventiv zu arbeiten. „Ich möchte wissen, wie es meinen Schülerinnen und Schülern geht.“ Bei häufiger Unlust, Kopf- und Bauchschmerzen wird er aufmerksam. „Es ist wichtig, dass Kinder sich rechtzeitig gesehen und ernstgenommen fühlen, schon bevor sich eine echte Schulangst entwickelt.“

Laut des DAK-Kinder- und Jugendreports 2018 leiden 3,5 Prozent aller Schülerinnen und Schüler unter Schulangst. Angebote wie die Flex-Fernschule können hier eine Alternative sein. Sie richtet sich an Kinder ab der fünften Klasse, die aus verschiedenen Gründen nicht zur Schule gehen können. „Die Zahl derer, die unter Ängsten – vor allem aber unter Schulangst – leiden, wächst seit Jahren“, erklärt Leiterin Ulrike Krauß am Standort Bamberg.

An der Fernschule von Don Bosco lernen Schulverweigerer von zu Hause aus 

An der Fernschule, die in Bayern vom Don Bosco Jugendwerk Bamberg getragen wird, können sie von zu Hause aus lernen. Das individuelle Lernmaterial kommt per Post. Begleitet werden die Kinder und Jugendlichen von einer Lehrkraft, mit der sie per Chat, Telefon, Mail oder Zoom in Kontakt stehen. „Wir gehen auf jeden Einzelnen ein. Die Kinder bestimmen das Tempo. Sie dürfen lernen, ohne sich der Welt dort draußen stellen zu müssen.“

Es ist nicht einfach, einen Platz an der Flex-Fernschule zu bekommen. Denn die Flex-Fernschule ist eine Jugendhilfemaßnahme und keine Schule. Die Schulpflicht wird mit ihr nicht erfüllt. Deshalb muss stets eine individuelle Lösung gefunden werden. Es hängt daher weitgehend vom Goodwill der Jugendämter, Bezirksregierungen und Schulleitungen ab, ob ein Antrag bewilligt wird. „Und das, obwohl wir für die Betroffenen oft die einzige Hoffnung sind“, bedauert Krauß.

Mut macht ihr, dass die Schule kontinuierlich wächst. „2016 haben wir mit 40 Lernenden angefangen, jetzt sind es 110.“ Manche schaffen ihren Mittelschulabschluss, obwohl sie die Prüfungen in Präsenz ablegen müssen. „Eine ehemalige Schülerin wird nun Steuerfachgehilfin, ein Absolvent hat sogar Jura studiert.“ Und immer wieder schaffen es Kinder nach einer Zeit an der Fernschule, in einen Klassenverband zurückzukehren.


Verwandte Themen

Junge Hände, die eine Gipsskulptur halten und mit dunkelblauer Farbe bepinseln.
Unterstützung
Immer mehr Schülerinnen und Schüler fehlen im Unterricht – oft aus Angst oder Überforderung. Das Projekt ROVEN an der Don Bosco Berufsschule Würzburg eröffnet ihnen neue Perspektiven in einem geschützten Lernraum.
Junge mit Rucksack sitzt mit vor das Gesicht geschlagenen Händen auf dem Boden vor dem Schulgebäude
Offen sprechen
Überforderung, Mobbing, Trennungsängste, häusliche Probleme – Schulangst kann unterschiedliche Ursachen haben. Erzieher Christian Huber weiß, wann Eltern genau hinschauen sollten und wie sie dazu beitragen können, dass ihr Kind gerne zur Schule geht.
Kind auf Schulbank legt verzweifelt Kopf in die Hände
Schulsozialarbeit und Therapie
Um junge Menschen mit mentalen Problemen bestmöglich zu versorgen, arbeitet Therapeut Marcus Reeh eng mit der Villa Lampe von Don Bosco in Heiligenstadt zusammen. Ein Gespräch über Ängste, überzogene Leistungsanforderungen und KI in der Therapie.