Abendritual
Wir sind dann mal weg
Unser Autor und seine Frau haben das Spazierengehen für sich entdeckt. Jeden Abend, ohne Kinder, immer eine Stunde lang. Dann klappt es mit dem Einschlafen. Und die gemeinsame Runde durchs Viertel hat noch weitere positive Folgen.
veröffentlicht am 10.11.2025
Beim ersten Mal fühlte es sich noch an, als wären wir Diebe, die darauf hoffen, nicht von der Polizei erwischt zu werden, zumindest aber hielten wir uns für Rabeneltern: Meine Frau und ich haben uns eines Abends von unseren Kindern verabschiedet, ihnen letzte Sicherheitshinweise gegeben, den Küchenherd kontrolliert, den Haustürschlüssel eingesteckt und vermieden, unseren Nachbarn und deren Nachfragen zu begegnen. Dann wagten wir das Unerhörte, das uns in 15 Elternjahren nicht einmal in den Sinn gekommen wäre: Wir stahlen uns davon und gingen spazieren – zu zweit, ohne Kinder, eine ganze Stunde lang. Und hofften inständig, das Haus mit seinen verbliebenen Insassen danach wieder heil vorzufinden.
Es war ein Befreiungsschlag, der uns damals vor zwei Jahren gelang, ein Meilenstein unseres Elterndaseins und ein Neubeginn unseres Ehelebens. Die Erfahrung war so umwerfend toll, dass wir es am nächsten Tag wieder taten und auch am über- und am überübernächsten, bis es zur Gewohnheit wurde. Zugegeben: Erst der sanfte Druck der Umstände erlaubte es, dass wir unseren Beschützerinstinkt überwanden und die Kinder – die Jüngste damals zehn – der eigenen Obhut überließen. Meine Frau hatte nach ständigen Schlafproblemen die glorreiche Eingebung, Bewegung könnte Abhilfe schaffen. Und siehe da: Es funktionierte – bis heute.
Wir wissen, wer Marihuana raucht, und grüßen die Hunde und ihre Besitzer
Immer nehmen wir die gleiche Runde durch unsere Stadtrand-Siedlung. Wir kennen inzwischen jede Ecke, wissen, welche Nachbarn Marihuana rauchen, grüßen die Hunde und ihre Besitzer, kraulen die Streunerkatzen. Im Frühjahr hören wir das Quaken der Frösche, sehen im Sommer die Marder huschen und im Herbst die Igel, navigieren an feuchten Tagen zwischen tausenden Schnecken und trotzen im Winter Eis und Schneematsch. Unsere Begleiter sind Abendrot, Nordlichter, Supermond und Sprühregen, und mehrmals hat uns ein Wolkenbruch ohne Schirm überrascht. Doch aufbrechen müssen wir immer, sonst gibt es kein Einschlafen.
Miteinander gehen will gelernt sein. Meine Frau und ich haben unterschiedliche Schrittlängen und brauchen den Kompromiss, um nicht im Gänsemarsch zu enden – das wissen wir seit jenem Spaziergang, mit dem unsere Beziehung einst begann. Gehen fördert das Gespräch und gleicht den Gegensatz meiner Wortkargheit und ihres Redeflusses aus, lässt Nachdenkpausen zu und nimmt bei zu vielen Worten den Atem. Es stärkt die Partnerschaft, weil wir endlich Zeit finden, uns Wichtiges wie Belangloses zu erzählen, gemeinsam zu reflektieren, Dampf abzulassen und unterschiedliche Ansichten in Ruhe zu besprechen. Der Abstand von den eigenen vier Wänden, der Arbeit, den To-do-Listen, den Handys und auch von den Kindern tut sein Übriges.
Die drei Teenager-Kinder kosten die sturmfreie Bude gründlich aus
Und die Kinder? Unser Gehen machte sie selbstständiger, sie emanzipierten sich – endlich ist nun auch unsere Jüngste Alleinherrscherin über ihre Zahnbürste. Allzu naiv ist allerdings unser Wunsch, sie würden schon schlafen, wenn wir zurückkehren, denn die sturmfreie Bude wird gründlich ausgekostet. So vernehmen wir ein drängendes „Heute geht ihr nicht spazieren?“, wenn sich unser Weggang verzögert, und ein leicht genervtes „Schon da?“, wenn wir früher als erwartet zurück sind. Sie spüren wohl, dass es auch ihnen guttut, wenn wir Eltern ausgewechselt und ausgeglichener heimkehren, oft Hand in Hand wie zwei Frischverliebte, die sich gerade erst gefunden haben.
Einmal, in wohl gar nicht mehr so vielen Jahren, wird uns niemand mehr die Tür öffnen. Schon jetzt kreisen viele unserer Gespräche beim Gehen um diesen Moment des Flüggewerdens, um Sorgen, Entscheidungen und alles, was noch kommen mag. Irgendwann begannen wir, am Rückweg den Rosenkranz für unsere drei Teenager zu beten und sie Gott anzuvertrauen. Auch uns wird dann dieser Abschied prägen und die nächste Etappe markieren – der Zweisamkeit, der wir mit Gelassenheit entgegensehen. Wir werden darauf vorbereitet sein, sagen mir meine Turnschuhe, von deren Sohle nach bereits zurückgelegter Jakobsweg-Distanz nichts übrig ist. Ich trage sie weiter und hüte sie wie eine Trophäe.





