Tod und Trauer

Ehemalige Arzthelferin begleitet Trauernde

Der Tod ihres neugeborenen Kindes veränderte Nicole Rinders Leben. Seit rund 17 Jahren begleitet die gelernte Arzthelferin nun Trauernde in deren schweren Stunden und gestaltet für Verstorbene deren „letztes Fest“.
  • Christine Wendel

veröffentlicht am 01.11.2018

Ein freundlicher Raum, helle Böden, die Sonne scheint durch die weiten Fenster. In der Mitte: ein runder Tisch. In dem Gesprächsraum des Bestattungsunternehmens AETAS in München sitzen oft Menschen während der schwersten Stunden ihres Lebens. Hier entscheiden sie, in welchen Sarg der nahe Mensch gebettet werden soll, der doch über Jahrzehnte neben einem gelegen hat. Und wie etwa die Trauerfeier für einen der liebsten Menschen aussehen soll. „Welche Musik hat ihr Sohn denn am liebsten gehört?“, fragt dann etwa Nicole Rinder (46). Und wenn dann der Mutter ein Lächeln entweicht und sie sagt: „Nein, diese Musik können wir nicht spielen“, dann bewegt sich etwas. „Dann kann die Trauer rauskommen.“ Die Trauernde begreife, dass sie hier nun tatsächlich sitzt und die Beerdigung ihres Kindes plant. Das seien existenzielle Momente, sagt Rinder. Wenn Menschen sich mit dem Tod eines nahen Angehörigen auseinandersetzen, „ist man so nah am Leben dran“. Abschied nehmen sei wichtig. Das weiß Rinder aus eigener Erfahrung.

Trauer und Tod gehören zum Leben dazu

18 Jahre wäre er heute alt, ihr Leon-Paul. Gelebt hat er vier Tage. Rinder und ihr Partner hatten sich sehr auf ihn gefreut. Alles verlief gut, bis knapp zum sechsten Monat. Wegen vorzeitiger Wehen wurde Rinder krankgeschrieben. Für sie ist diese Zeit heute noch „ein Geschenk“. Denn sie konnte sie mit ihrer ebenfalls schwangeren besten Freundin verbringen – und sich ganz auf die Schwangerschaft einlassen, die Zeit mit ihrem ungeborenen Sohn genießen. Einen Monat vor dem Entbindungstermin kam dann der Tag, der für Rinder heute noch nicht in allen Facetten greifbar ist. Ihr Frauenarzt hatte ihr zu einem Ultraschall geraten. Tatsächlich war ein Termin frei geworden. „Sagen Sie bitte allen Patientinnen, dass es später wird. Das hier dauert etwas länger“, sagte der Arzt nach der Untersuchung zur Sprechstundenhilfe. Und zu Rinder sagte er: „Ich muss Ihnen sagen, Ihr Kind ist krank. Ihr Kind ist schwer krank.“ Sie konnte es nicht begreifen. „Es war wie Watte im Kopf“, erklärt Rinder. Sie habe gedacht: „Was willst du von mir?“ Und: „Das kann nicht sein.“ Rinder erzählt es heute gefasst, anschaulich und mit viel Mimik und Gestik. Obwohl der Verlust eines geliebten Menschen niemals „einfach gut“ werde, habe sie gelernt, mit der Trauer umzugehen.

„Es gibt ein Leben davor“, erklärt Rinder. „Und ein Leben danach.“ Sie wolle nicht urteilen und sagen, dass das eine besser oder schlechter sei. „Es ist, wie es ist.“ Und sie habe versucht, das Beste daraus zu machen.

Trauer und Tod gehörten zum Leben dazu. „Alle sagen, Trauer ist etwas Negatives“, sagt Rinder in ihrer fröhlichen Art – und das, obwohl oder gerade weil sie ihr jeden Tag begegnet. „Wenn ich es schaffe, Trauer als meinen Freund zu sehen und nicht als Feind, dann schaffe ich es, mit den Verlusten, die ich erlebe, in meinem Herzen zu leben – ohne, dass ich sie verdrängen muss.“ Und so versucht sie in ihrer täglichen Arbeit, mit Menschen ins Gespräch über den Verstorbenen zu kommen und die Zeit vom Tod bis zur Beerdigung möglichst gut zu gestalten. „Es ist eine so wichtige Zeit“, erklärt Rinder. „Alles, was ich in dieser Zeit nicht mache, kann ich nicht mehr nachholen.“ Abschiednehmen, das sei eine „Herzenssache“. Das Bestattungsunternehmen, in dem sie arbeitet, bietet individuelle Trauerfeiern im Haus an, in hellen Räumen, gestaltet nach den Wünschen der Angehörigen. „Das letzte Fest“, nennen es Rinder und ihr Team. Und es sei auch schon vorgekommen, dass die Trauernden um den Sarg herum auf eigens aufgestellten Stehtischen Suppe gegessen haben. Die Lieblingssuppe des Verstorbenen, erklärt Rinder. „Erbsensuppe, das weiß ich noch ganz genau.“

Tränen zulassen

Hell ist auch der Abschiedsraum. Hier haben die Angehörigen die Möglichkeit, den Verstorbenen Tage vor der Beisetzung noch einmal zu sehen – allein oder mit Freunden und Verwandten, je nach Wunsch und was sich richtig anfühlt. Eine Schiebetür kann für Privatsphäre sorgen oder den Raum öffnen. Das letztmalige Abschiednehmen sei wichtig für die Trauerarbeit, sagt Rinder. Und sie hält es für ebenso wichtig, Tränen zuzulassen. „Ganz viele Menschen sitzen hier und entschuldigen sich für ihre Tränen“, sagt Rinder. Doch der Kloß, der dürfe sich lösen. „Sie dürfen trauern.“

„Warum machst du das jeden Tag?“, fragte sich Rinder eines Abends, als sie bei sich zu Hause saß und die „Blaue Stunde“, die Zeit kurz vor dem Beginn der Nacht, genoss. Sie fand eine Antwort. „Ich will ein Zeichen setzen.“ Ein Zeichen für Trauernde. Sie kreierte daraufhin ein rotes Herz zum Anstecken, das in eine Schleife übergeht – das „ErinnerungsHerz“. Es soll zeigen: „Ich muss mich nicht verstecken. Ich darf trauern.“ Und die brünette Frau trägt es selbst an ihrer dunkelblauen Tunika, die mit bunten Blumen an den Ärmeln verziert ist.

Mama sein – bis zum letzten Moment

Auch sie vermisst heute noch ihren Sohn. Nach der Diagnose war sie damals unter Schock. Sie wollte nichts mehr an sich heranlassen, alles schnell hinter sich bringen. „Doch so tragisch, wie alles ist, was passiert ist“, sagt sie heute, „habe ich unglaublich viel Glück gehabt.“ Ihr seien die richtigen Leute zur richtigen Zeit begegnet. Eine Hebamme aus dem Geburtshaus, in dem sie eigentlich einen gesunden Jungen zur Welt bringen wollte, vermittelte sie an eine Frau mit einem ähnlichen Schicksal. Diese sagt, Rinders Sohn könne nichts dafür. Er wolle ja auch leben. So ließ sie nicht vorzeitig die Geburt einleiten, fühlte noch drei weitere Wochen ihren Leon-Paul in ihrem Bauch. Der Kleine kämpfte, überlebte trotz Aneurysmas die Geburt. Und er konnte nach Hause. Die Verwandten kamen noch in der Nacht, Oma, Opa, Tanten, Onkel, die kleinen Cousins, die kleine Cousine. Sie begrüßten den Familienzuwachs und nahmen gleichzeitig schon Abschied. Leon-Paul starb am vierten Tag. Rinder konnte ihn ein letztes Mal ankleiden und in den selbst bemalten Sarg betten. „Ich war seine Mama“, sagt Rinder. „Ich habe ihn zugedeckt.“ Dieses Gefühl, bis zum letzten Moment Eltern sein zu dürfen, das trage sie noch heute. Und mit dieser Erfahrung kann sie sich in die Angehörigen reinversetzten, mit denen sie nun jeden Tag zu tun hat.

Nach dem Tod ihres Sohnes 1999 gab Rinder ihren Beruf als Arzthelferin auf. Sie machte eine Ausbildung, um Rückbildungskurse zu geben für Mütter, die, wie sie, ihr Kind nicht zu Hause in den Arm nehmen konnten. 2001 wurde sie schließlich Bestatterin. Ihr heutiger Chef arbeitete bei dem Bestattungsunternehmen, das sich um die Beerdigung von Leon-Paul gekümmert hatte. Sie blieben in Kontakt, er machte sich selbstständig – und er fragte sie, ob sie sich vorstellen könne, Eltern von verstorbenen Kindern zu begleiten. Sie überlegte und kam zur Antwort: „Ich will.“

Heute ist sie da für Angehörige, unabhängig vom Alter des Verstorbenen. Sie rät Trauernden, die Lieblingskleidung des nahen Menschen rauszusuchen. Auf Wunsch können sie den geliebten Menschen auch selbst ankleiden. Und sie können den Sarg gestalten, individuell. Kleine Kinder hinterlassen Abdrücke ihrer „Patschehändchen“, die Schwester malt eine Blume auf den Sarg, die Freunde hinterlassen letzte Grüße. Auch die Beigaben in den Sarg sind persönlich. Neulich habe sich eine Frau gemeldet. Sie habe vergessen, ihrem Mann seine Lesebrille mitzugeben. „Bitte setzen Sie sie ihm auf“, bat sie. „Wenn er seine Lesebrille braucht, dann machen wir das natürlich“, sagt Rinder ernst, aber mit einer freundlichen Mimik. Sie wirkt ausgeglichen, fröhlich, offen. Zum einen versuche sie, „ihren Akku“ nicht leer werden zu lassen, erklärt sie. Sie reise gerne, nehme sich Zeit für sich. Den Morgen beginnt sie mit dem Radio. „Ich brauche morgens immer fetzige Musik.“ Und sie werde gestärkt durch ihre Familie. Diese sei anfangs zwar überhaupt nicht begeistert gewesen von Rinders Berufswechsel. „Dann bist du den ganzen Tag nur umgeben von Tod und Trauer“, sagten ihre Eltern, Geschwister und Freunde damals. Heute stützen sie sie. „Du brauchst Menschen, die deinen Beruf aushalten.“ Sie müsse sich nicht verstellen. Sie kann über den Tod und die Schicksale reden, denen sie jeden Tag begegnet.

Das Helle im Dunklen sehen

Nach Leon-Pauls Tod ist Rinder nicht mehr schwanger geworden. „Was meine Kinder sind“, sagt sie und geht freudig mit ihrer Stimme nach oben, das seien die Jungen und Mädchen aus der 2013 gegründeten AETAS Kinderstiftung, die sich um Kinder nach einem Schicksalsschlag vielfältig bemüht. Rinder begleitet die Kinderstärkegruppe mit, um Kindern Kraft und Mut zu geben. „In jeder Gruppe sind mindestens ein bis zwei dabei, die mir sofort ans Herz wachsen“, sagt Rinder und strahlt.

Rinder sieht das Helle im Dunklen. Sie ist durch Tiefen in ihrem Leben gegangen, sagt sie. Und sie habe viele Momente gehabt, in denen sie zweifelte, dass ihr Weg der richtige sei. Aber dann sei immer irgendwas geschehen. Wie neulich am Münchner Ostfriedhof, wo sie auf dem Weg zu einem Grab war. Da sei ihr eine unbekannte Nonne entgegengekommen. „Junge Frau, wo gehen Sie denn hin?“ Sie kamen ins Gespräch und die Nonne segnete Rinder, sodass sie noch lange ihre Arbeit machen könne. Und wenn Rinder den trauernden Angehörigen beisteht und sieht, wie sie weinen und doch lachen können, dann weiß sie, es ist ihr Weg.  

 

Von der Arzthelferin zur Trauerbegleiterin

Nicole Rinder wurde vor 46 Jahren in Heidenheim geboren und lebt seit 33 Jahren in München. Die gelernte Arzthelferin verlor 1999 ihren vier Tage alten Sohn. Sie machte eine Ausbildung in der Geburtsvorbereitung, um Frauen beizustehen, die ein ähnliches Schicksal hatten. Nach der Beerdigung ihres Sohnes hielt sie Kontakt zu einem Bestatter, der sich im Jahr 2000 mit „AETAS Lebens- und Trauerkultur“ in München selbstständig machte. Er fragte sie, ob sie mit ihm arbeiten wolle. Rinder machte eine Ausbildung zur Trauerbegleiterin, arbeitet nun seit 17 Jahren in dem Bestattungsunternehmen und leitet dies mittlerweile gemeinsam mit dem Gründer. AETAS bietet neben dem Service rund um die Beisetzung auch Kurse, Wegbegleitungen sowie Fort- und Weiterbildungen an. Zudem setzt sich die AETAS Kinderstiftung für Kinder ein, die Dramatisches erleben mussten.



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