Besuch vom Christkind
Das Tannenbäumchen
Ein kleiner Tannenbaumn ist umringt von einer Menge schöner Bäume, die sich über das Tännlein lustig machen. Doch eines Nachts wird alles anders. Nach einem Märchen von Luise Büchner.
veröffentlicht am 22.11.2020
Es war einmal ein schöner, großer Garten, in dem standen eine Menge Bäume. Auf dem einen wuchsen Kirschen, auf dem anderen Birnen, auf dem dritten Äpfel und so fort, und die Kinder mochten die Bäume sehr. Nun war es wieder einmal Frühling und der Garten stand da in seinem schönsten Schmuck. Die Kirschbäume waren anzusehen, als wären sie mit Zucker bestreut, die Pfirsiche hatten rosarote Blüten wie der Abendhimmel, und die Apfelbäume waren ganz mit weißen Knospen übersät. Aber mittendrin stand ein kleiner Baum: starr und dunkelgrün streckten seine Nadeln sich hinaus, und nicht die kleinste weiße oder rote Blüte war daran zu sehen.
Das Bäumlein aber war ganz zufrieden, freute sich am Gezwitscher der Vöglein und dachte nicht daran, wie unscheinbar es aussah. Aber das ärgerte die schönen Bäume mit ihren Blüten, und ein Kirschbaum fing auf einmal an und sprach: „Es ist doch wirklich ein Glück, wenn man hübsch aussieht und auch zu etwas gut ist in der Welt! Jetzt habe ich feine, weiße Blüten, aus denen prächtige rote Kirschen werden. Ach, wie froh ich bin, dass ich nicht so ein einfältiger Tannenbaum geworden bin wie der hier neben mir!“ „Du hast recht, rief ein Birnbaum, „dein Nachbar ist mehr als überflüssig. Von meinen saftigen Birnen will ich noch gar nicht reden.“
„Du tust, als ob du der wichtigste Baum wärest!“
Auch einige schöne Buchen und Eichen fingen an, sich hervorzutun. Eine dicke Buche rief: „Wenn wir auch keine so süßen Früchte tragen, so sind wir doch gleichfalls von dem allergrößten Nutzen. Im Sommer geben wir kühlen, prächtigen Schatten und im Winter heizen wir die Zimmer ein, denn wir haben gutes, festes Holz.“ „Du tust, als ob du der wichtigste Baum wärest!“, erwiderte eine Eiche. „Ich bin die Eiche, ich komme in Millionen Gedichten vor. Mit meinen Eicheln mästet man Schweine, und es gibt Leute genug, die lieber ein gutes Stück Schweinebraten essen als Kirschen und Birnen.“ Nachdem die Eiche dies gesprochen hatte, fächelte sie sich mit ihren Zweigen zu, hob stolz den Wipfel empor. Die anderen Bäume blieben ganz still, bis endlich eine schlanke, grüne Linde sich zu regen begann und leise säuselte: „Am Ende bin ich doch noch die Wichtigste, wenn meine Blüte auch sehr klein und unscheinbar ist. Man bereitet guten, heilenden Tee daraus, und haben die Menschen zu viel Obst gegessen und davon Bauchweh bekommen, dann muss sie dieser Trank gesund machen.“ Als die kluge Linde wieder schwieg, nickten die andern Bäume.
Das arme Tannenbäumchen hatte die ganze Zeit zitternd und schweigend dagestanden, doch nun suchte es die allgemeine Stille zu nutzen, um ein Wörtchen zu seiner Verteidigung zu sagen: „Ach, ihr lieben Bäume, so ganz nutzlos und überflüssig bin ich doch nicht, wenn ich auch weniger schön geschmückt bin als ihr. Aus meinem Holz kann man Häuser und Schiffe bauen und mit den Tannenzapfen machen die Leute ihr Feuer an.“ „Hahaha!“, schallte es da aus allen Ecken und Enden. „Mit Hobelspänen kann man auch Feuer anmachen, als ob das ein Verdienst wäre!“ Und die Bäume bogen und neigten sich und wollten sich halb totlachen.
Endlich ging die Sonne unter, und als der silberne Mond langsam heraufstieg, lag alles in tiefstem Schweigen. Nur ein Baum konnte nicht schlafen, das war das Tannenbäumchen. Es war so betrübt, dass es gern bittere Tränen vergossen hätte, wenn es ein Mensch und kein Baum gewesen wäre. Ach, es wünschte sich auch weiche, flatternde Blätter und süße Früchte. Auf einmal wurde es vor ihm ganz hell und licht und über dem Rasen schwebte ein wunderschöner Engel. Er hatte ein langes, schneeweißes Gewand, auf dem Kopfe trug er einen Kranz von den schönsten Rosen, und darüber glänzte es wie gesponnenes Silber. Das war niemand anderes als unser liebes Christkind. Das Tannenbäumchen tat ihm leid und darum sagte es: „Tannenbäumchen, die bösen Bäume hier haben dich ausgelacht, weil du nicht so schön bist wie sie. Aber warte nur, bald sollst du schöner sein als sie alle. Wenn der Winter kommt und all die Bäume hier kahl und entlaubt stehen, dann sollst du süßere und buntere Früchte tragen und die Kinder werden sich mehr über dich freuen als über alle anderen Bäume auf der Welt!“ Nachdem das Christkind dies gesagt hatte, war es gerade so schnell wieder verschwunden, wie es gekommen war. So kam und ging der Sommer und die Bäume gaben nach und nach alle ihre Früchte her, bis es Herbst war.
Goldene Nüsse und funkelnde Sterne
Bald war an dem Apfel- und dem Birnbaum kein Blättchen mehr zu sehen und der Winter kam mit raschen Schritten heran. Unser Tannenbäumchen aber hielt sich wacker, es blieb so grün und wartete. Auf einmal, in einer langen, dunklen Nacht, da stand das Christkind wieder neben dem Bäumchen und sagte: „Ich bin da, um mein Wort zu halten!“ Im Schatten stand der heilige Nikolaus mit einem großen Sack. Das Christkind griff hinein und überschüttete das Bäumchen mit goldenen Nüssen und Äpfeln, mit köstlichem Zuckerwerk und mit funkelnden Sternen, sodass es schöner und bunter glänzte als je ein Baum zuvor. Dann steckte der Nikolaus brennende Kerzchen an die Zweige des Tannenbäumchens, da leuchtete es fast so hell wie die Sternlein.
Wie nun alles fertig war, klingelte das Christkind laut mit seiner silbernen Schelle, sodass alle Bäume ringsumher aufwachten, sich verwundert umsahen und nicht wussten, woher auf einmal all der Glanz und die Pracht kamen. „Seht hierher, ihr Necker und Spötter!“, rief das Christkind mit lauter Stimme. „Der herrlich geschmückte Baum vor euch, das ist das Tannenbäumchen, das ihr verspottet habt. Jetzt nehme ich es mit mir, wohin ihr niemals kommt, in warme, helle Stuben und zu fröhlichen Menschen. Alt und Jung werden sich an seinem Anblick erfreuen und die Kinder werden es am liebsten von allen Bäumen haben!“ Damit nahm das Christkind das Bäumchen in die Hand und fort war es. Ganz verdutzt blickten sie dem hellen Streifen nach, bis er im Dunkel verschwand. Wohin aber das Christkind das Tannenbäumchen trug, das brauche ich euch nicht zu sagen, denn das wissen alle Kinder, die zu Weihnachten eins bekommen.