Familienbande

Was Eltern tun können, damit sich Geschwister gut verstehen

Die Ältesten werden überfordert, die Sandwichkinder übersehen und die Nesthäkchen verwöhnt. Was ist dran an diesen Klischees? Und wie schaffen es Eltern, jedem ihrer Kinder gerecht zu werden? Antworten von Familienberaterin Evelin te Gempt.

veröffentlicht am 18.05.2021

Als ältestes von vier Kindern habe ich mich oft für die jüngeren verantwortlich gefühlt. Jetzt habe ich selbst zwei Kinder und meiner Tochter geht es ähnlich. Ist das das Los der Erstgeborenen?
Das älteste Kind wird in eine Rolle geboren, die sich mit der Geburt des zweiten Kindes automatisch verändert. Alleine dadurch, dass es älter ist als seine Geschwister, hat es einen Vorsprung, sowohl körperlich als auch geistig. Dieser Vorsprung führt dazu, dass sich erstgeborene Töchter und Söhne in gewisser Weise verantwortlich fühlen.

Dieses Gefühl entsteht nicht unbedingt aus ihrer eigenen Intuition. Oft werden tatsächlich bestimmte Erwartungen an Erstgeborene geknüpft. Ihnen werden beispielsweise mehr Aufgaben übertragen. Das macht Erstgeborenen manchmal das Wahrnehmen von eigenen Bedürfnissen etwas schwierig. Dadurch können Konflikte auftreten. Natürlich spielt auch der Altersunterschied zwischen den Kindern eine Rolle. Aber grundsätzlich ist die Frage eindeutig mit Ja zu beantworten.

Sollten Eltern versuchen, solche Rollenzuschreibungen, die sich aus der Position in der Geschwisterreihenfolge ergeben, zu vermeiden?
Das wird Eltern nicht gelingen. Wichtig ist es, die Rolle des Erstgeborenen zu würdigen. Wenn ein Geschwisterkind kommt, ist das ein großes Dilemma für alle. Auch die Eltern müssen sich neu orientieren, müssen eine neue Aufgabenverteilung vornehmen. Zuvor war nur ein Kind da; durch dieses Kind wurde aus dem Paar eine Familie. Wenn dann ein weiteres Kind geboren wird, nehmen die Eltern die Bedürfnisse des Erstgeborenen oft nicht mehr wahr. Sie achten weniger darauf und gehen nicht mehr in einem angemessenen Maß darauf ein.

Man geht davon aus, dass drei bis vier Jahre zwischen dem ersten und dem zweiten Kind ein optimaler Zeitabstand sind, sofern man das verallgemeinern kann. Aus entwicklungspsychologischer Sicht ist ein solcher Abstand ein großer Vorteil für das erstgeborene Kind, denn ab dann gilt ist es weitestgehend gesättigt hinsichtlich der eigenen Befriedigungen von Grundbedürfnissen.

Wenn ich einen Appell an Eltern richten dürfte, würde ich sagen, bitte gebt so lange wie nötig dem Erstgeborenen noch genau das, was für die jeweilige Entwicklungsstufe wichtig ist. Stellt keine zu großen und vor allem keine nicht erfüllbaren Erwartungen das Kind. Das schaffen Kinder nicht, das überfordert sie.

Wie sieht es mit den Rollen der anderen Kinder aus? Ist es tatsächlich so, dass Sandwichkinder oft zu kurz kommen und die Nesthäkchen verwöhnt werden, oder sind das Klischees?
Zum Teil sind es sicherlich Klischees. Die gesellschaftliche Wahrnehmung ist sehr fokussiert auf diese Klischees und bewertet ein entsprechendes Verhalten von Kindern, um diese Schubladen zu bedienen. Aber es ist auch tatsächlich so, dass Sandwichkinder etwas mehr tun müssen, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Gleichzeitig haben sie den großen Vorteil, dass die sich ein bisschen zurückziehen können und dann nicht sofort auffallen. Das kann Vorteile, aber auch Nachteile mit sich bringen. Eltern sollten enorm wachsam sein, um diese Kinder nicht aus dem Blick zu verlieren.

Sandwichkinder haben den Vorteil, dass sie sich orientieren können. Sie können sich sowohl mit dem älteren als auch mit dem jüngeren Geschwisterkind identifizieren. Sie sind hervorragend in der Lage auszugleichen, also kooperativ sowohl gegenüber dem älteren als auch gegenüber dem jüngeren zu wirken und ein gutes Angebot für beide zu stricken, sodass sie, wenn es einen Streit gibt, wieder zusammenkommen. Diese Fähigkeit wird leider manchmal übersehen. Hinzu kommt: Das Sandwichkind war ja auch mal Nesthäkchen und ist dann aus dieser Rolle gekickt worden. Es hat auch erlebt, dass die Identität sich ändert, dass die Wahrnehmung der Eltern sich ändert. Sandwichkinder sind oft risikofreudiger als die Erstgeborenen. Man geht davon aus, dass sie die mutigeren sind. Sie erlauben sich, mal aus der Spur zu treten und etwas ganz anderes auszuprobieren, eine Rolle auszuprobieren, die in der Familie noch nicht besetzt ist. Vielleicht fängt das Kind an, sich musikalisch auszuprobieren oder wählt einen bestimmten Sport. Oder es wählt später einmal einen Partner, dass diese Wahl die Familie erstmal erschüttert.

Zum Klischee der verwöhnten Nesthäkchen: Die Frage ist, was das Interesse der Eltern ist, wofür also dieses Kind steht. Wenn Eltern sich mit diesem Kind aus der Rolle der Elternschaft verabschieden und sagen, das ist das letzte Kind, das genießen wir nochmal so richtig, dann kann es passieren, dass das jüngste Kind für ein Bedürfnis herhält. Natürlich würde kein Kind schreien, so eine besondere Aufmerksamkeit mag ich nicht. Aber es zeigt vielleicht später in bestimmten Verhaltensweisen, dass da ein Zuviel herrschte. Verwöhnung wird, wenn überhaupt, von Eltern vorgenommen. Es kann aber auch sein, dass dieses Kind genau das kriegt, was die anderen Kinder auch gebraucht hätten.

Grundsätzlich gilt es, jedes Kind, egal in welcher Position, möglichst individuell zu sehen, zu verstehen und es lesen zu lernen. Das ist die Aufgabe von Eltern in der heutigen Zeit. Das heißt nicht unbedingt, dass ich als Elternteil alle Bedürfnisse und zwar sofort befriedigen kann, das braucht es oft auch gar nicht. Wichtig ist, dass ich die Bedürfnisse erkenne. Das allein lässt Kinder häufig schon seelisch zufriedener sein und sich seelisch ausruhen.

Was tun, wenn ein Kind das Gefühl hat, das andere oder die anderen Kinder würden von den Eltern bevorzugt oder sogar mehr geliebt?
Das ist auf jeden Fall ernst zu nehmen und auf keinen Fall abzuwerten, zu bagatellisieren oder gar zu verleugnen. Wenn ein Kind so etwas äußert, ist ohnehin schon eine gewisse Grenze überschritten. So etwas sagt ein Kind nicht einfach aus dem Nichts heraus, sondern das muss schon länger in ihm gegärt haben. Ich empfehle Eltern in so einem Fall, für ganz viel Ruhe und Offenheit zu sorgen, einen Rahmen zu schaffen, in dem das Kind eine Einladung spürt, erzählen zu dürfen und wahrgenommen und ernstgenommen zu werden. In einem solchen Rahmen kann das Kind beschreiben, was es meint.

Wenn es sich damit schwertut, können Eltern ihm helfen, zum Beispiel über Fragen oder Aussagen wie „Kann es sein, dass…?“ oder „Ich mache mir gerade Gedanken, wo das passiert ist, was du gerade beschreibst“. Das kann für eine große Offenheit und vor allem für Bindung sorgen, es kann Nähe schaffen. Ich schaffe wertvolle Nähe, wenn ich bereit bin, meinen Gesprächspartner anzuhören und ihn auf mich wirken zu lassen.

Oft haben Eltern das Gefühl, nicht allen ihren Kindern gleich gerecht zu werden. Müssen Sie das schaffen?
Wie soll das gehen? Das ist nicht leistbar. Durchgängige Gleichberechtigung ist in einer Familie nicht leistbar. Aber ich kann wahrnehmen, wen ich vielleicht bevorzuge. Das kann mal Kind A sein, das kann aber auch mal Kind B oder C sein. Wenn ich wahrnehme oder mir mein Partner spiegelt, du hast nur Kind A im Blick, was ist eigentlich mit dem oder den anderen, sollte ich offen dafür sein. Es gehört zum Alltag dazu, dass einem auch in einer Familie der eine oder andere nähersteht, aus unterschiedlichen Gründen. Es ist eine Mär, davon auszugehen, dass eine Mutter oder ein Vater alleine alles gleichzeitig im Blick hat. Das muss auch nicht sein, zumal auch nicht jedes Kind zeitgleich das gleiche Bedürfnis hat.

Wie können Eltern dazu beitragen, dass ihre Kinder gut miteinander zurechtkommen?
Das können sie schon früh schaffen, und das sollten sie auch schon früh schaffen, wenn es nicht anstrengend werden soll. Und zwar an der Stelle, wo die Kinder miteinander in Kooperation treten. Wenn ich Erstgeborene schnell überfordere mit meinen Aufträgen und Anliegen, kann eine große Frustration entstehen. Diese Frustration braucht einen Kanal, und dieser Kanal ist meistens das jüngere Kind. Das ist der normale Weg. Wenn Eltern dagegenwirken wollen, haben sie die Möglichkeit, das Erstgeborene gut im Blick zu behalten und seine Rolle zu würdigen. Das wirkt sich auch positiv auf die anderen Geschwister aus. Wenn ein Kind nicht gesehen wird und viel kämpfen muss, um seine Bedürfnisse befriedigt zu bekommen, steigere ich als Eltern unbewusst einen Konkurrenzkampf der Kinder untereinander.

Sollen die Eltern sich einmischen, wenn es Streit gibt, oder die Kinder den Konflikt untereinander austragen lassen?
Das ist situationsabhängig. Eltern greifen heute sehr schnell ein. Der Grund ist oft, dass sie das jüngere Kind beschützen wollen. Ein weiterer Grund kann sein, dass schon ein negativer Blick auf das ältere Kind gelegt wurde. Wenn das kleine dann schreit, geht man selbstverständlich davon aus, das ältere habe etwas getan. Aber das kann auch eine elterliche Fehlinterpretation sein. Kleine beziehungsweise jüngere Kinder wissen das sehr schnell für sich einzusetzen. Das verstärkt wiederum die Hilflosigkeit und das Dilemma von Erstgeborenen.

Wichtig ist zu beobachten, was auf dem Spielfeld der sich streitenden Kinder eigentlich gerade los ist und ob es mich als Elternteil jetzt wirklich braucht. Da sollten Eltern mehr zum Beobachter werden und sich fragen, was das Schlimmste wäre, was in der Situation passieren könnte. Wenn das Schlimmste ist, dass das jüngste Kind vielleicht etwas länger schreit als sonst, darf man abwägen, ob ein Eingreifen wichtig ist. Eltern können sich auch fragen, welchen Entwicklungsprozess ihres jüngsten Kindes sie unterbrechen oder zum Stillstand bringen, wenn sie schnell eingreifen. Wo nehme ich ihm die Möglichkeit zu wachsen, indem es lernt, sich zu wehren oder andere Strategien außer streiten und schreien anzuwenden.

Können Sie ein Beispiel dafür nennen?
Ich habe neulich ein Elternpaar in der Beratung gehabt. Beide klagten, die fast dreijährige Tochter würde dem kleinen Bruder im Sandkasten ständig das Spielzeug wegnehmen oder es ihm erst gar nicht geben. Dann schreit der Kleine, und die Eltern gehen hin und sagen dem Mädchen, es solle teilen. Dass das von der Entwicklungspsychologie her noch gar nicht dran ist, übersehen die Eltern oder wissen es häufig nicht. Auch die Ungerechtigkeit wird nicht gesehen. Der Junge lernt, dass er durch sein Schreien das kriegt, was er will, und zwar sofort und sogar mit Hilfe elterlicher Autorität. Dadurch nimmt man dem Kleinen natürlich eine enorme Entwicklungsmöglichkeit. Auch das Warten, sich hintenanstellen und die Frustration darüber aushalten zu lernen, etwas nicht zu bekommen, was er gerade will, kann er so nicht lernen.

Wobei man dazusagen muss, dass es auch von der Nervenkapazität der Eltern abhängt, ob sie es schaffen, nicht sofort einzugreifen. Das kann heute so und morgen anders sein. Manchmal gelingt es gut und manchmal nicht. Das ist nachvollziehbar, nur für Kinder schwer kalkulierbar. Deshalb ist die Frage immer, lohnt es sich, dass jetzt aufspringe, muss das wirklich sein oder müssen die zwei da nicht durch? Selbst wenn sie sich schubsen oder mal hauen, ist das kein Zeichen von totaler Aggressivität, sondern hat mit einer Klärung der Rollen zu tun. Verletzt werden soll natürlich keiner.

Wie können Eltern die Basis dafür legen, dass die Kinder sich später als Erwachsene gut verstehen?
Auch schon da, im Sandkasten. Nicht reagieren heißt ja nicht nicht reagieren. Man kann und sollte auf jeden Fall im Blickkontakt und somit präsent bleiben. Es heißt aber auch, gutes Verhalten zu loben. Wenn das Mädchen, über das ich eben gesprochen haben, sein Spielzeug abgibt, kann die Mutter oder der Vater das positiv verstärken, in dem sie oder er sagt „ich habe gesehen, wie schwer dir das fällt, und du hast es trotzdem geschafft, was für eine Leistung“. Wenn das Kind das Spielzeug nicht abgeben will, darf man auch sagen „ich verstehe, dass du damit zu Ende spielen willst, und das darfst du auch“.

Wenn das alles über die Jahre im Blick bleibt, dann verstehen sich die Kinder auch später. Zumindest ist dann eine gute Basis gelegt. Umgekehrt, und da schließt sich der Kreis, liegen Konflikte im Erwachsenenalter oft in einem Mangel in einer wichtigen Phase der Kindheit begründet, in dem Gefühl, ungerecht behandelt worden zu sein.

Wobei – das ist mir sehr wichtig zu vermitteln – das Thema auch fünf, zehn oder zwanzig Jahre später auf den Tisch kommen darf, möglichst mit allen Beteiligten, um genau den Mangel, das Erleben zu kommunizieren. Möglicherweise schließt sich dadurch eine Versöhnung an. Auch die Annahme der Schuld, die man als Eltern dann vielleicht spürt oder sogar von den Kindern zugesprochen bekommt, gehört dazu. Diese Schuld gilt es nicht abzuwehren oder zu verleugnen, sondern sie anzunehmen und, wenn auch vielleicht spät, nachzuvollziehen und zu verstehen. Dann kann trotz allem noch eine gute und gelungene Beziehung, in welcher Quantität und Qualität auch immer, zwischen den Geschwistern entstehen.

Evelin te Gempt

Evelin te Gempt ist Diplom-Sozialpädagogin und systemische Therapeutin (DGSF). Sie arbeitet als Beraterin im Referat für Ehe-, Familien-, Lebens- und Erziehungsberatung des Bistums Osnabrück und als selbständiger Coach.


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