Notfallseelsorge

Erste Hilfe für die Seele

Wenn ein Mensch ganz plötzlich stirbt, bricht für die Angehörigen eine Welt zusammen. Die Seele steht unter Schock. Als Notfallseelsorger ist Pater Jürgen Langer dann vor Ort, um Halt und Trost zu geben.

veröffentlicht am 28.12.2020

Jahrelang hatten sie darauf hingearbeitet und ihren Traum endlich verwirklicht: ein eigenes Haus in einem Vorort von Bonn, nahe der Stadt und doch im Grünen. Platz zum Spielen für die Kinder und eine Ruheinsel für die Eltern. Mit Sack und Pack waren sie eingezogen, viele Umzugskartons standen noch in den Ecken. Von Anfang an hatte sich der Vater beim Bau des Hauses sehr engagiert, obwohl er auch beruflich eingespannt war. An diesem Tag wollte er mit Freunden die Lampen anbringen. Hell und gemütlich sollte es werden, aber es wurde dunkel.

Pater Jürgen Langer, katholischer Leiter der Notfallseelsorge Bonn Rhein-Sieg, nimmt an diesem Tag den Notruf entgegen. Am anderen Ende ist ein Rettungsassistent, der in kurzen, klaren Worten die Situation schildert: „Ein Familienvater ist beim Arbeiten im Wohnzimmer umgekippt. Anfang 40, schwerer Herzinfarkt. Wir versuchen, zu reanimieren, aber es sieht schlecht aus. Die Ehefrau und drei kleine Kinder sind im Haus, dazu Freunde der Familie. So langsam ahnen sie, dass es vorbei sein könnte.“

Die Seelsorger sind immer mit Situationen konfrontiert, die unberechenbar sind

Pater Langer arbeitet seit 20 Jahren als Notfallseelsorger und erfasst die Situation sofort. „Es waren so viele Menschen vor Ort und auch Kinder, deshalb war klar, dass mehrere Seelsorger gebraucht würden.“ Schnell entscheidet sich der 57-Jährige, selbst hinzufahren, und alarmiert zwei weitere Seelsorger seines 30-köpfigen Teams. Als Leiter kennt er seine Mitarbeiter gut und weiß, wen er in welche Situation schicken kann. Er wählt zwei der jüngeren Seelsorger aus und setzt sich dann selbst ins Auto.

„Die Anfahrt nach einem Notruf hat immer eine ganz besondere Stimmung“, sagt Pater Langer, den die Gelassenheit und Ruhe eines Mannes umgeben, der schon viel gesehen hat. „Man ist konzentriert, sammelt sich. Versucht, sich zu wappnen für das, was einen vor Ort erwartet, auch wenn man das vorher nie abschätzen kann.“ Egal, ob der Priester zu einem Unglücksort gerufen wird oder eine Todesnachricht überbringen muss: „Als Notfallseelsorger bist du immer mit Situationen konfrontiert, die ungefiltert, unmittelbar und unberechenbar sind. Und damit muss man klarkommen.“

Im Haus der jungen Familie hat das Notfallteam die Wiederbelebungsversuche eingestellt. Aus seiner Zeit als Rettungsassistent weiß Langer: „Die Angehörigen hoffen so lange, dass alles wieder gut wird, bis die Sanitäter aufhören, zu reanimieren.“ Dann beginnt seine eigentliche Aufgabe. Hilfe leisten für die Seele. Langer sitzt bei der Ehefrau des Verstorbenen, sie kann nicht glauben, was passiert ist, fühlt sich wie in einem Traum gefangen. „Das ist ein Schutzmechanismus der Seele“, weiß Langer, der auch Pastoralpsychologie studiert hat. „Man nennt das Derealisation – alles erscheint unwirklich. Die Menschen fühlen sich wie betäubt.“

Ein Fels in der Brandung

Die Empfindungen der jungen Frau switchen an diesem Abend hin und her. Pater Langer sieht nackte Existenzangst in ihren Augen, die die Trauer im Moment verdrängt. Da sind die Kinder, das neue Haus, die Schulden und so viele Fragen: „Was wird aus uns? Was kommt auf uns zu? Und wie soll ich morgen früh noch die Augen aufmachen?“ Der Seelsorger bleibt bei ihr, hört zu, spendet Trost und erklärt, was um sie herum vorgeht. Ein Fels mitten in der Brandung.

"Wenn ein junger Mensch plötzlich stirbt, passieren viele Dinge, mit denen die Angehörigen nicht rechnen und die die Situation noch erschweren.“ Der Rettungsdienst meldet einen „unklaren Tod“ und kurze Zeit später bevölkern Polizeibeamte und die Kripo das Haus. „Fremde Leute, die man da nicht haben will. Sie stellen Fragen und nehmen den Leichnam mit“, erklärt der Seelsorger. Für die Angehörigen eine entsetzliche Situation. „Viele fragen: Was läuft hier? Wo bringen sie meinen Mann hin? Was wollen sie mir unterstellen?“

Die Seelsorger beruhigen und erklären die Zusammenhänge: dass das ein normaler Vorgang ist, dass die Staatsanwaltschaft darüber entscheidet, ob eine Obduktion durchgeführt wird, und wann der Leichnam zur Bestattung freigegeben wird. Dass die Familie die Beerdigung danach selbst organisieren kann. Und auch, dass man eine Obduktion in Auftrag geben muss, wenn man wissen will, woran der Angehörige verstorben ist. „Notfallseelsorge ist mehr praktische Hilfe, als man denken würde. Es gilt, die Situation zu managen und die Angehörigen ein Stück weit an die Hand zu nehmen.“

Todesnachrichten zu überbringen, ist selbst für erfahrene Notfallseelsorger eine Herausforderung

Nicht nur im übertragenen Sinne. „Wir sind zurückhaltend mit Körperkontakt, aber wir halten auch die Hand, wenn die Leute das wünschen.“ Jetzt in Corona-Zeiten geht das nicht. „Wir haben die Hygienevorschriften zu beachten. Das bedeutet Abstand halten und Masken tragen“, macht Langer deutlich. Dass andere Notfallseelsorgeeinheiten ihre Arbeit wegen Corona eingestellt haben, kann er nicht verstehen. „Wir hatten hier in der ganzen Zeit noch keinen Fall, der direkt mit Covid-19 zu tun hatte, und unsere Arbeit ist zu wichtig, um sie aufzugeben“, sagt er bestimmt.

Eine Arbeit, zu der auch das Überbringen von Todesnachrichten gehört. „Man weiß nie, was einen erwartet“, sagt Langer. Manchmal ist niemand zu Hause, manchmal öffnet ein Kind die Tür. Mal wartet die Familie schon auf Nachricht, mal fallen die Leute aus allen Wolken. „Wir sind immer zu zweit – ein Notfallseelsorger, ein Polizist.“ Lieber würden sie im Wohnzimmer reden, aber oft kommen sie gar nicht so weit. „Wenn die Eltern nachts schon auf die Rückkehr ihres Kindes gewartet haben und dann klingeln wir an der Haustür, gehört nicht viel dazu, und sie fangen an, zu schreien.“ Auch für den erfahrenen Notfallseelsorger sind das heftige Momente.

Zumal er weiß: „Die Versorgung von Angehörigen ist in Deutschland nicht so gut organisiert, wie man meint.“ Beratungsstellen können recht schnell unterstützen. Aber wer einen Termin bei einem Therapeuten braucht, muss auch im Akutfall mit drei Monaten Wartezeit rechnen. Selbsthilfegruppen greifen auch erst, wenn Hinterbliebene in ihrem Trauerprozess schon weiter sind. Deshalb hat sich das Team der Notfallseelsorger darauf verständigt, in manchen Fällen auch über die ersten Stunden hinaus ansprechbar zu sein. Damit füllen sie eine wichtige Lücke. „Es ist mehr als erste Hilfe für die Seele.“

"Man muss seelisch sehr ausbalanciert sein"

Vor allem aber geht es um akute Situationen am Einsatzort. Die Ehrenamtler bleiben meist zwischen einer und vier Stunden. „Irgendwann kommt der Moment, in dem ich weiß, jetzt kann ich gehen.“ Dann ist ein bisschen Ruhe reingekommen. Oft sind auch Verwandte oder Freunde eingetroffen, die sehr stabil sind und ähnliches durchgemacht haben. „Man spürt bei Menschen schnell, ob sie mit Tod und Trauer umgehen können. Sie vermitteln: Ich weiß, was das bedeutet, ich habe es selbst erlebt und ich begleite dich. Das ist schön zu sehen“, sagt Pater Langer lächelnd.

Die Einsätze der Notfallseelsorger sind schwierig, aber zugleich gibt es vieles, was den Priester beeindruckt. „Wie viel Kraft Menschen in der Not entwickeln können. Wie sie es schaffen, ihr Unglück zu überstehen und zu verarbeiten.“ Diese Erfahrung bestärkt ihn in seiner Arbeit, die ihm auch nach all den Jahren zu Herzen geht. „Für mich ist es am schlimmsten, wenn Menschen mit Demenz ihren Angehörigen und damit ihre Bezugsperson verlieren. Wir erleben das häufig bei älteren Paaren, bei denen der pflegende Part unerwartet zuerst stirbt“, sagt Pater Langer, und man spürt, wie nahe ihm solche Situationen gehen.

„Man muss seelisch schon sehr ausbalanciert sein, um diese Arbeit tun zu können“, räumt der Priester ein. Er selbst nimmt die schweren Momente mit ins Gebet oder spricht mit anderen Menschen darüber. Zum Beispiel mit seinem besten Freund, einem evangelischen Pastor, mit dem er die Notfallseelsorge leitet. „Wir müssen damit leben, dass wir nicht allen helfen können.“ Und dennoch leistet jeder, der hier mitarbeitet, einen unersetzbaren Dienst. Notfallseelsorger können die Welt nicht retten, aber sie machen sie ein großes Stück besser.

Was ist Notfallseelsorge? Wer kann Notfallseelsorger werden?
Notfallseelsorger leisten psychosoziale Akuthilfe bei Unfällen und Katastrophen und stehen Überlebenden oder Angehörigen zur Seite. Auch in Vermisstenfällen oder bei der Überbringung von Todesnachrichten kommen sie zum Einsatz. Die Notfallseelsorge ist ökumenisch aufgestellt und hilft Menschen, egal welcher Religion oder Weltanschauung. Notfallseelsorger sollten Erfahrungen in Psychologie, Medizin, Beratung, Seelsorge oder Hospizarbeit mitbringen, außerdem teamfähig und sozial kompetent sein, physisch und psychisch belastbar, offen und tolerant und bei Abschluss der Ausbildung mindestens 24 Jahre alt. Wichtig sind ein Führerschein und ein Auto.

Weitere Informationen unter www.notfallseelsorge.de und www.notfallseelsorge.at


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