Mutige Aktivistin

Porträt Daniela Brodesser: Frau Sonnenschein kämpft gegen Armut

Daniela Brodesser führte mit ihrer Familie das Leben einer Durchschnittsfamilie – bis ihre Tochter mit gesundheitlichen Problemen zur Welt kam. Durch Überlastung und Jobverlust rutschte die Familie in die Armut und kämpfte sich mühsam wieder heraus.

veröffentlicht am 30.09.2023

Ein Freitagnachmittag Ende Juni in Linz in Oberösterreich. Ein Treffen in einem schicken Café in der Innenstadt an einem kleinen Park. Daniela Brodesser trägt ein leichtes Leo-print-Kleid und weiße Sling-Pumps. Die Sonnenbrille hat sie ins kurze Haar geschoben. Vor sich einen Cappuccino und ein Glas Limonenwasser. Sie telefoniert. Es geht um einen wichtigen Termin nächste Woche, um Ärger mit einer Behörde, die Freundin wird bei dem Termin dabei sein.

Das Wetter kann sich nicht so recht entscheiden an diesem Tag. Nach der üblichen Mittagswärme wird es plötzlich finster und ein kräftiger Schauer fegt über den Platz, später bricht die Wolken-
decke auf und die Sonne strahlt vom blauen Himmel. Dieses Auf und Ab spiegelt im Grunde genau das Leben von Daniela Brodesser und ihrer Familie in den vergangenen Jahren wider. Die Verwandlung von einer typischen Durchschnittsfamilie in einen Haushalt, der in Armut lebt – und sich dann langsam wieder daraus hervorkämpft. Von einer zufriedenen Mutter von vier Kindern in eine beschämte, unsichere Frau – die heute als selbstbewusste Aktivistin und Buchautorin für die Rechte von Armutsbetroffenen eintritt. Die Verwandlung von @grauemaus – unter diesem Namen war Daniela Brodesser früher in den sozialen Medien unterwegs – hin zu Frau Sonnenschein.

Kein geregelter Tagesablauf möglich 

Daniela Brodesser ist in Linz geboren und aufgewachsen. Sie lernte Bürokauffrau, heiratete, bekam vier Kinder. Das jüngste, ein Mädchen, war bei der Geburt schwer krank und verbrachte die ersten Monate im Krankenhaus. Auch nach der Entlassung war ein geregelter Tagesablauf nicht möglich. Das Kind musste rund um die Uhr betreut und überwacht werden, Pflegepersonal kam und ging, immer wieder musste der Notarzt gerufen werden. Die Mutter kümmerte sich um ihre Tochter, an Berufstätigkeit war nicht zu denken.

Anfangs konnte die Familie die Situation finanziell noch bewältigen, trotz der hohen Zusatzkosten, die die Krankheit verursachte. Ihr Mann stockte seine Arbeitszeit auf und arbeitete sieben Tage pro Woche. Das ging vier Jahre lang gut. Dann, im Herbst 2012, brach er zusammen. Burn-out. Die Firma kündigte ihm. Der Arzt nahm die Symptome nicht ernst und entließ seinen Patienten nach knapp zweiwöchigem Krankenstand wieder in die Arbeit. „Er, der es nicht kannte, erwerbslos und vom Arbeitsmarktservice abhängig zu sein, nahm schließlich den erstbesten Job, den er finden konnte. Niedriglohnsektor, freier Dienstnehmer. „Prekär“, schreibt Brodesser in ihrem Buch „Armut“ (siehe Buchtipp). Alle seine Bemühungen, etwas Besseres zu finden, liefen ins Leere.

Irgendwann geht nichts mehr

Anfang 2016 ging dann gar nichts mehr. Die Folgen des nicht behandelten Burn-outs erwischten den Ehemann und Vater mit voller Wucht. Nun musste er auch seine selbstständigen Tätigkeiten aufgeben. Der Arzt beantragte eine Therapie für ihn. Bis zu deren Beginn sechs Monate später hätte ihr Mann, so Brodesser, von 219 Euro Krankengeld die Familie über die Runden bringen müssen. Einen Anspruch auf Sozialhilfe gebe es weder für sie noch für ihren Mann, hieß es in der Beratungsstelle. Im Rückblick weiß Daniela Brodesser, dass ihr Mann sehr wohl etwas hätte bekommen müssen. Stattdessen kochte und putzte sie, gab Nachhilfe, alles schwarz, um wenigstens die Miete bezahlen zu können.

Ab jetzt steckte die Familie in der Falle. In der Armutsfalle. Daniela Brodesser fühlt immer noch den Schmerz und die Scham von damals, wenn sie sich an diese Zeit erinnert und über den Teufelskreis aus Stigmatisierung und sozialer Entfremdung spricht, in den die Familie – wie so viele Betroffene – geraten ist. Wenn sie erzählt, wie sie mit ihren Kindern stundenlang in eisiger Kälte oder bei Regen auf eine Mitfahrgelegenheit nach Hause wartete, weil sie sich den Bus nicht leisten konnten. Wie wieder eins der Kinder eine dieser typischen Mitteilungen nach Hause brachte – „Bitte morgen vier Euro mitbringen“ – und sie das Geld nicht hatten. Wie sie sich daraufhin Belehrungen und unsinnige Ratschläge von Lehrkräften anhören musste, die nie Armut erlebt hatten und die Situation nicht nachvollziehen konnten.

Viele Menschen sind armutsgefährdet

Dabei ist Armut kein Randphänomen. Einer Erhebung aus dem Jahr 2022 zufolge sind 14,8 Prozent der österreichischen Bevölkerung armutsgefährdet. Das heißt, ihr Einkommen liegt unterhalb der Armutsgrenze. In Deutschland lag die Armutsgefährdungsquote 2022 bei 14,7 Prozent. 2,3 Prozent der österreichischen und 6,1 Prozent der deutschen Bevölkerung gelten als erheblich materiell und sozial benachteiligt, können sich also Ausgaben für Wesentliches wie Waschmaschine, Handy oder eine beheizte Wohnung nicht leisten. Die meisten Armutsbetroffenen versuchen zunächst noch, den Schein zu wahren und nicht aufzufallen. Doch je mehr Zeit vergeht, desto schwieriger wird das und desto größer werden Selbstvorwürfe und Beschämung.

Daniela Brodesser spricht klar und ruhig über ihre Erfahrungen und über die Schlüsse, die sie für sich daraus gezogen hat. Manche Sätze und Geschichten scheint sie so oder ähnlich schon häufig wiederholt zu haben. Bei anderen überlegt sie einen Moment, sammelt sich und fängt dann an zu sprechen. In der einen Hand hält sie eine Zigarette, mit der anderen gestikuliert sie. Die Lach- und Sorgenfalten in ihrem Gesicht zeugen von den emotionalen Höhen und Tiefen der vergangenen Jahre.

"Einer der demütigendsten Momente meines Lebens"

Dass die 47-Jährige heute nicht nur offen über ihre eigene Geschichte sprechen kann, sondern sich auch lautstark für Armutsbetroffene engagiert, verdankt sie ganz wesentlich einer spontanen Aktion an einem Abend im Sommer 2017. Vorausgegangen war eine beschämende Situation vor dem Mehrfamilienhaus, in dem die Familie damals lebte. Die Mutter war an diesem Tag zum ersten und einzigen Mal mit den Kindern im örtlichen Freibad ihres damaligen Wohnortes gewesen. 4,20 Euro kostete die Familienkarte. Als die Familie am Abend glücklich nach Hause kam, stellte der Vermieter sie draußen vor der versammelten Nachbarschaft zur Rede, wollte wissen, wo sie gewesen seien, und warf der Mutter vor, ihr Geld zu verschwenden, statt endlich die ausstehende Betriebskostenzahlung zu begleichen.

Zurück in der Wohnung habe sie sich gefühlt, als würde sich der Boden unter ihren Füßen auftun, erzählt Brodesser. „Es war einer der demütigendsten Momente meines Lebens.“ Dann nahm sie ihren letzten Mut zusammen und beschloss, ihren Gefühlen Luft zu machen. Auf ihrem damaligen anonymen Twitteraccount @grauemaus veröffentlichte sie einen Tweet, in dem sie alles niederschrieb, was sie in diesem Moment bewegte. Sie schrieb, wie sehr sie diese und alle vorangegangenen Beschämungen verletzt hatten, welch ein unsicherer Mensch sie dadurch geworden war und ob man sich wirklich alles gefallen lassen müsse, nur weil man arm ist.

Ein Tweet, der alles verändert

Und dann geschah etwas, womit sie niemals gerechnet hatte: Andere Betroffene meldeten sich zu Wort und schilderten ähnliche Erfahrungen, zeigten sich dankbar, dass endlich einmal jemand die Situation der Armutsbetroffenen öffentlich machte. Auch Nichtbetroffene äußerten sich. Sie schrieben, dass sie sich das so nicht vorgestellt hätten und jetzt besser über ihre Aussagen nachdenken würden. „Das ist innerhalb von zwei Stunden explodiert“, so Brodesser. Und mehr noch: Als die ersten negativen Kommentare kamen, die ersten Trolle sich einschalteten, übernahmen andere Nutzer das Antworten und wiesen die Besserwisser und Hasskommentatoren in die Schranken, stellten sich hinter die Tweet-Schreiberin und bildeten quasi einen emotionalen Schutzwall um sie. „Ich hab gar nichts mehr machen müssen“, erzählt Brodesser.

Dieser Tweet änderte alles. Aus der anonymen @grauemaus wurde Frau Sonnenschein, die nun auch unter ihrem Namen als @danibrodesser schreibt. Nach wenigen Monaten wurde sie zum ersten Mal auf eine Veranstaltung eingeladen. Im Frühjahr 2018 hielt sie eine Rede vor dem Bundeskanzleramt in Wien. Über Twitter bekam sie ihren ersten Job nach der erzwungenen Auszeit und war im Monat danach zum ersten Mal seit Jahren über der Armutsgefährdungsgrenze – und darüber unendlich erleichtert. Es sei „noch lange kein Durchatmen“ gewesen, so Brodesser, „aber ein ganz leichtes, leises Aufatmen“. Heute arbeitet sie selbstständig, hält Vorträge und Lesungen und schreibt Artikel. Im März ist ihr Buch erschienen. Die Kinder, 26, 19, 17 und 14 Jahre alt, sind stolz auf ihre Mama. Auch der Vater kann wieder arbeiten.    

Was Nichtbetroffene (nicht) tun sollten

Geschrieben hat Daniela Brodesser das Buch für Betroffene, für Nichtbetroffene und für Menschen, die beruflich mit dem Thema Armut in Berührung kommen. Die Betroffenen möchte sie ermutigen und ihnen das Gefühl geben, nicht alleine zu sein, möchte sie aufrufen, sich zu vernetzen und sich Wissen über Armut und Beschämung anzueignen. Den Fachleuten möchte sie neben Fakten ihre persönliche Perspektive mit auf den Weg geben. Für die Nichtbetroffenen hat die Autorin eine ganze Reihe Bitten zusammengestellt: Zuhören. Nicht werten. Nicht relativieren. Dem Gegenüber nicht die Expertise absprechen. Die eigene Sprache überdenken. Laut werden für Betroffene. Die eigenen Privilegien erkennen und anerkennen. Und vor allem fragen, was der oder die andere braucht.

Eine einfache, aber wirkungsvolle Idee, um armutsbetroffene Familien zu unterstützen, hat Daniela Brodesser in der Volksschule eines ihrer Kinder zusammen mit der Lehrerin getestet. Normalerweise fragen die Lehrkräfte, wenn es um die Förderung von Projektwochen geht, vor der ganzen Klasse, wer einen Antrag braucht. Diesmal teilte die Lehrerin stattdessen die Formulare an alle Kinder aus. Die Zahl der Anträge stieg. Offenbar hatten einige Kinder sich vorher nicht getraut, sich zu melden. Andere Schulen haben die Idee inzwischen übernommen.

Kleiner Luxus: Einkauf im Biomarkt

Eine weitere konkrete Hilfe, sogenannte Buchpatenschaften, bietet Brodesser seit Jahren an. Wer eins der Bücher haben möchte, die sie auf ihren Accounts empfiehlt, schreibt ihr eine Direktnachricht. Wer eins verschenken möchte, ebenfalls. Sie bringt die beiden dann zusammen, die Patin oder der Pate schickt das Buch direkt an die Empfängerin oder den Empfänger. Auch von ihrem eigenen Buch hat sie auf diese Weise schon etliche Exemplare verteilt.  

Bevor Brodesser an diesem Freitag nach Hause fährt, besorgt sie in einem Biomarkt noch schnell die Zutaten fürs Abendessen. Eine Zucchini, eine Zitrone, etwas frischer Knoblauch, eine Packung Spaghetti und ein Becher Schlagobers wandern in den Einkaufskorb, dazu Gummibärchen und eine kleine Flasche Mineralwasser. „Ich schaue immer, dass ich mit wenig Geld alle satt kriege, das ist mir geblieben“, sagt sie. 7,84 Euro zeigt die Kasse am Ende an. Früher undenkbar für so wenig Essen! Ganz kann Daniela Brodesser ihr schlechtes Gewissen nicht unterdrücken – und doch ist sie unheimlich dankbar, dass sie sich diesen kleinen Luxus heute leisten kann. 

In ihrem Buch „Armut“ (Kremayr & Scheriau) schildert Daniela Brodesser, welche fatalen Folgen Armut haben kann. Anhand von Fakten und persönlichen Erfahrungen zeigt sie, was finanziell und menschlich nötig ist, um Betroffene wirkungsvoll zu unterstützen. Auf Twitter, Instagram und Facebook ist die Aktivistin als Frau Sonnenschein aka Daniela Brodesser aktiv. Unter dem Hashtag #IchBinArmutsbetroffen vernetzen sich Betroffene in den sozialen Medien.


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