Gesellschaft

Wenn Menschen unter Einsamkeit leiden

Singles, Senioren, Mütter: Einsamkeit kann jeden treffen. Menschen in unterschiedlichen Lebenssituationen erzählen, wie sie das Gefühl erleben und wie sie damit umgehen. Und eine Psychotherapeutin erklärt, warum Einsamkeit entsteht und was helfen kann.

veröffentlicht am 30.06.2021

Sie kommt oft schleichend. Sie kann jeden treffen. Am Anfang bemerken die Betroffenen sie häufig nicht. Aber dann ist sie plötzlich da. Und kann unheimlich wehtun.

Einsamkeit ist ein Problem, für den Einzelnen und für die Gesellschaft. Eine Untersuchung der Ruhr-Universität Bochum vom April 2021 zeigt: 10 bis 20 Prozent der Menschen in Deutschland sind von chronischer Einsamkeit betroffen. Besonders gefährdet sind junge Erwachsene und sehr alte Menschen. In Österreich hatten laut einer Studie der Universität Wien im Januar rund 40 Prozent der Befragten zumindest an manchen Tagen Einsamkeitsgefühle. Vergleiche mit früheren Untersuchungen ergeben, dass bereits vor Corona viele Menschen einsam waren und die Pandemie die Situation nur verschärft hat.

„Es können Momente sein, wo man nicht damit rechnet, dass sie einem um die Ohren fliegen“, sagt Martina Zimmermann*, 39. „Du sitzt dann da, hast einen freien Abend, auf den du dich gefreut hast, und kriegst irgendwie Beklemmungen, dunkle Gedanken.“ Alleine sein störe sie nicht, das könne sie gut. „Aber einsam sein ist etwas, was einen langsam beschleicht. Das merkst du vielleicht tagsüber gar nicht, weil du in deinem Trott drin bist, du bist mit Arbeiten beschäftigt, gehst einem Ehrenamt nach. Aber dann kann es sein, dass es dich beschleicht, das Gefühl.“

Single: „Man sieht uns nicht“

Die Produktmanagerin ist Single, hat keine Kinder. Sie lebt in einer Zweizimmerwohnung in einer süddeutschen Großstadt. Vor Corona war sie fast jeden Abend unterwegs, traf Freunde, engagierte sich ehrenamtlich. Schon zu dieser Zeit gab es immer wieder Momente, in denen sie einsam war. Seit dem Beginn der Pandemie fühlte sie sich plötzlich komplett von der Außenwelt abgeschnitten.

Was ihr daran besonders zu schaffen macht, ist der Eindruck: „Man sieht die Singles nicht.“ Alleinstehende, auch Alleinerziehende, seien für alles selbst verantwortlich, müssten vorsorgen, ihr Leben organisieren, sich um ihre Eltern kümmern und zahlten obendrein noch viele Steuern. „Dann heißt es immer, die Leute haben ihr Leben im Griff. Aber keiner schaut hinter die Fassade.“ Das klassische Familienbild werde höher bewertet als andere Lebensformen, findet Martina Zimmermann. Natürlich müsse auch jede und jeder Einzelne daran mitwirken, Einsamkeit zu vermeiden. Doch die 39-Jährige würde sich wünschen, dass Gesellschaft, Politik und auch die Kirche Singles stärker in den Blick nehmen. Möglicherweise hätten diese ihr Leben auch anders geplant, hätten gedacht, sie würden heiraten und Kinder haben, so Zimmermann. „Man darf sie nicht immer an den Rand drängen.“

Wie stark alleinstehende, auch jüngere Menschen von Einsamkeit besonders betroffen sind, erlebt Tatjana Reichhart in ihrer täglichen Arbeit. Die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie ist in München als selbstständiger Coach und Trainerin tätig. „Wir können nur gut funktionieren, wenn wir im Kontakt mit anderen Menschen stehen“, sagt sie. „Wenn wir es als Gesellschaft erleben, dass es viele Single-Haushalte gibt, die Familien immer kleiner werden, dann passiert natürlich eine Vereinzelung und damit auch ein höheres Risiko der Vereinsamung.“

Das Gefühl, nicht zu genügen, kann Einsamkeit begünstigen

Auch die kapitalistisch ausgerichtete Gesellschaft, die von ständiger Beschleunigung geprägt sei, trage zu mehr Einsamkeit bei, erklärt Reichhart. Durch das kontinuierliche Höher, Schneller, Weiter hätten die Menschen „immer mehr das Gefühl, nicht zu genügen und abgehängt zu sein, nicht mehr dazuzugehören“. Eine zunehmende Individualisierung sowie der Wegfall gemeinsamer Strukturen und Werte, die die Menschen früher beispielsweise im Glauben oder in Vereinen gefunden haben, seien weitere Faktoren, die Einsamkeit begünstigen. (Was Einsamkeit genau ist und was dagegen hilft, beschreibt Tatjana Reichhart in unserem Video.)

Einen Weg aus ihrer Einsamkeit gesucht und gefunden hat Eveline Harder. Die 79-jährige Berlinerin engagiert sich bei Silbernetz, einem Hilfs- und Kontaktangebot für ältere Menschen. Einmal wöchentlich übernimmt sie eine Schicht bei der kostenlosen, anonymen Telefonhotline des Netzwerks. „Weihnachten 2018 habe ich die ersten Nachtschichten gemacht, die erste von null Uhr bis morgens um acht“, erzählt Harder. „Es klingelt unentwegt an Heiligabend. Die Leute wachen dann auf in ihrem Kummer, oder die Flasche ist leer, oder es hat Familienkrach gegeben. Oder es kocht hoch aus alten Erinnerungen. Dadurch hat man sehr intensive Gespräche.“ Im Rahmen einer sogenannten Silbernetz-Freundschaft telefoniert Harder außerdem alle zwei Wochen mit einem Mann, der in einem Berliner Seniorenwohnheim lebt. Darüber hinaus engagiert sich die ehemalige Direktionsassistentin, die ehrenamtlich auch als Sterbebegleiterin tätig war und in der Demenzbetreuung tätig ist, im Sozialwerk Berlin.

Eveline Harder ist seit fast vier Jahrzehnten geschieden und hat keine Kinder. Seit etwa 2014 habe sich ihr Bekannten- und Familienkreis stark verkleinert, erzählt sie. „Es ist einfach erschreckend gewesen, was da alles um mich herum wegstarb“, so Harder. „Ich stellte plötzlich fest, dass ich keine Kontakte mehr habe. Das führt natürlich an Geburtstagen, Feiertagen – am schlimmsten ist es an Weihnachten – dazu, dass man alleine dasitzt.“ Weil Harder weiß, dass es vielen Menschen ähnlich geht, fordert sie, Angebote für einsame alte Menschen besser bekannt zu machen. Wenn es nach ihr ginge, gäbe es jeden Abend zur besten Sendezeit im Fernsehen einen Werbespot für Hilfsangebote wie Silbernetz. Irgendwann, hofft die Seniorin, würden Betroffene dann vielleicht ihre Scham überwinden, die Nummer notieren und zum Telefon greifen.

Welches Bedürfnis ist gerade nicht erfüllt?

Aktiv werden, sich Hilfe holen, Kontakt suchen, egal ob bei einer Telefonhotline, dem Hausarzt, einer Kirchengemeinde oder bei Freunden, das empfiehlt auch Coach Tatjana Reichhart. „Die Gefühle der Verbundenheit und der Zugehörigkeit haben ganz stark damit zu tun, ob wir uns als Menschen anderen gegenüber öffnen und verletzlich zeigen“, sagt sie. „Wenn wir in eine Schutzhaltung gehen, uns nicht öffnen, uns nicht wirklich zeigen mit unseren Schwächen und Fehlern, dann gibt es auch keine Chance der echten Verbundenheit.“ Ein tiefes Gefühl von Verbundenheit entstehe nur durch wirkliche menschliche Begegnung.

Dabei geht es immer um die Frage, welches Bedürfnis gerade nicht erfüllt ist, wenn wir uns einsam fühlen. Spüren wir eine Sinnhaftigkeit in dem, was wir tun? Fühlen wir uns richtig in unserem Leben? Fühlen wir uns verortet und zuhause? Oder leben wir so stark im Außen, dass wir den Bezug zu unseren persönlichen Bedürfnissen verloren haben? Wenn wir unsere Bedürfnisse nicht mehr befriedigen können, weil wir gar nicht mehr spüren, was wir brauchen, können Leere und Einsamkeit entstehen.

Das gilt auch und gerade für eine Personengruppe, die mit dem Thema Einsamkeit nicht unbedingt in Verbindung gebracht wird: junge Mütter. Doch gerade sie sind oft sehr einsam. „Die momentane Klein- und Kleinstfamilienstruktur ist ein völliger Wahnsinn“, erklärt die Ärztin Gerda Kosnar-Dauz aus Wien, die in ihrer Privatpraxis und im Beratungszentrum Nanaya vor allem mit Müttern arbeitet. „Ich brauche organisierte Stillgruppen, Spielgruppen, den Spielplatz. Ich treffe nicht automatisch in meiner Familie oder in meiner nächsten Umgebung, in meinem Viertel, gleichgesinnte Frauen mit ähnlich alten Kindern, wo ich in ein System eingebunden bin. Ich muss mir das aktiv suchen.“

Viele junge Mütter fühlen sich total verloren

Hinzu kommt, dass viele Mütter keine Vorbilder bezüglich Schwangerschaft, Geburt, Muttersein oder Karenzzeit im Familien- oder Freundeskreis haben. Bei den meisten jungen Müttern, die sie erlebe, so Kosnar-Dauz, gebe es „keine Tanten, Cousinen, Freundinnen, die das alles schon erlebt haben, die sie fragen können, wo sie tausendmal erzählt bekommen haben, wie es einen anfixt, wenn der Mann abends fortgeht und man selber hängt noch mit dem Baby am Busen zuhause“. Diese Mütter fühlten sich total verloren. Oder sie versuchten noch mit allen Mitteln, ihr neues Leben auf die Reihe zu kriegen, den Partner mit ins Boot zu holen und alles richtig zu machen. Das Ergebnis bei vielen: eine tiefe Einsamkeit – trotz Beziehung, trotz Kind.

Einfache, schnelle Lösungen gibt es nicht, weiß die 46-Jährige, die selbst Mutter von drei Kindern ist und Einsamkeit auch aus eigener Erfahrung kennt. Was neben gezieltem Netzwerken helfen kann, sind vor allem Änderungen im Denken, in den eigenen Einstellungen. Ein erster Schritt kann sein, die aktuelle Situation anzunehmen. „Anerkennen, dass es ist wie es ist“, so die Ärztin. „Dass es nicht ganz so romantisch ist wie geplant, dass ich das nicht so wie vorher die Buchhaltung oder das Management im Griff habe, sondern dass sowohl mein Kind, mein Leben als auch ich selber plötzlich unberechenbar und unkontrollierbar geworden sind.“ Wem das schwer fällt, der kann in der eigenen Biografie nach Lösungsansätzen suchen. Woher kommt die Angst vor dem Kontrollverlust, das Gefühl, nicht eingebunden zu sein, die Einsamkeit? Wo habe ich das zum ersten Mal erlebt und wie kann ich dafür sorgen, dass es mich in meinem jetzigen Leben nicht mehr belastet?

Den Frauen in ihrer Praxis und im Beratungszentrum gibt Gerda Kosnar-Dauz gerne einen Gedanken mit auf den Weg: „Was unsere Kinder von uns brauchen, ist keine perfekte Mutter, sondern eine Mutter, die sich so wie sie ist, richtig findet, und die ihr Kind so wie es ist, richtig findet.“ Das schließt nicht aus, dass man sich weiterentwickelt. Dass man Fehler macht, nach deren Ursachen sucht und versucht, es beim nächsten Mal besser zu machen. Es führt dazu, dass man zu sich selbst findet, zu echter Authentizität, jenseits von angelernten Verhaltens- und Reaktionsmustern. Dass man sich verbunden fühlt mit sich und mit anderen. Eine solche Verbundenheit ist nicht nur für Mütter ein guter Schutz gegen Einsamkeit.

*Name von der Redaktion geändert


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