Gesellschaft
Manchmal reicht schon ein Lächeln – Über die Arbeit der Berliner Einsamkeitsbeauftragten Katharina Schulz
Einsamkeit betrifft immer mehr Menschen. In Berlin-Reinickendorf sorgt die Einsamkeitsbeauftragte Katharina Schulz mit Engagement und Herz dafür, dass Betroffene Anschluss finden – und schafft ein Miteinander, das niemanden ausschließt.
veröffentlicht am 16.10.2025
Einfach mal ein paar Minuten für sich haben, Füße hoch, Kaffee trinken und die soziale Batterie aufladen. Vor allem Menschen in der Lebensmitte, die eingespannt sind zwischen Job, Familie und den vielen Anforderungen des Alltags, genießen solche raren Momente des Alleinseins. Was aber, wenn aus ein paar Minuten Ich-Zeit viele Stunden, Tage oder sogar Jahre werden?
Was Einsamkeit vom Alleinsein unterscheidet, ist der Schmerz, der entsteht, wenn Menschen nicht gesehen, geliebt und gebraucht werden. „Wir sind soziale Wesen und auf Gemeinschaft und Zugehörigkeit angewiesen. Wer sozial isoliert ist, kann langfristig krank werden“, sagt Katharina Schulz, Einsamkeitsbeauftragte in Berlin-Reinickendorf. „Studien belegen, dass chronische Einsamkeit schädlicher ist als 15 Zigaretten am Tag. Betroffene können Angststörungen, Depressionen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen entwickeln.“
Katharina Schulz will der stillen Not etwas entgegensetzen. Nicht als Sozialarbeiterin, sondern als engagierte und kommunikative Netzwerkerin, die soziale Fäden spinnt. Seit Juli 2024 organisiert die Betriebswirtschaftlerin Arbeitskreise, spricht mit Fachstellen und Einrichtungen vor Ort, schafft eine Infrastruktur gegen die Einsamkeit. Mit vielen Arbeitsstunden und vollem Elan verfolgt sie auf diese Weise die Initiative der Bezirksbürgermeisterin Emine Demirbüken-Wegner (CDU), die sich schon seit vielen Jahren für ein besseres Miteinander einsetzt.
Jeder Mensch kann einsam sein
Zwei Powerfrauen für Reinickendorf. Ein Bezirk mit 270.000 Einwohnerinnen und Einwohnern, der von idyllischen Wäldern und Seen geprägt ist, aber auch vom Märkischen Viertel, einer der größten Plattenbausiedlungen Berlins. „Für mich ist es eine Ehre, die wichtige Aufgabe als Einsamkeitsbeauftragte zu erfüllen“, sagt die 42-Jährige mit den langen dunklen Haaren und den offenen blauen Augen. „Gerade Großstädte werden immer anonymer. Vielen fällt es schwer, über ihre Einsamkeit zu sprechen. Ich möchte das Thema aus der Tabuzone holen.“
Jeder Mensch kann einsam sein, auch mitten unter Menschen. Das Gefühl, nicht dazuzugehören, entsteht unabhängig von Einkommen, Alter oder Geschlecht. Und doch gibt es sensible Lebensphasen, in denen man leichter den Anschluss an die Gemeinschaft verlieren kann. Dazu gehören Schul- und Jobwechsel, Arbeitslosigkeit oder der Ruhestand. Trennungen, Umzüge und Migration können genauso einsam machen, wie gesundheitliche Einschränkungen oder die Trauer um einen geliebten Menschen.
Besonders betroffen ist die älteste Generation. Katharina Schulz hat es bei ihrer Großmutter erlebt, die 99 Jahre alt wurde. „Sie hatte ihre Familie immer um sich und doch weiß ich, dass sie einsam war. Mein Opa ist schon fast zwanzig Jahre tot und ihr fehlten gleichaltrige Freunde und Wegbegleiter.“ Ein Gefühl, das auch die über Hundertjährigen in Reinickendorf kennen, die sich einmal im Jahr zu einem Festessen treffen. „Es ist schön, wie sie ins Gespräch kommen und einfach bezaubernd, wenn eine 104-Jährige mit einem 107-Jährigen Telefonnummern tauscht.“
Zusammen gegen das Alleinsein
Die Reinickendorferin mit den polnischen Wurzeln hat einen festen Glauben und ein großes Herz. Für ihre Berliner Heimat und für die Menschen, die dort leben. Mit sechs Jahren kam sie mit ihrer Familie in den Nordwesten der Spreestadt, war seither nur einmal zum Studium weg. „Auch mein Mann stammt von hier und unsere beiden Kinder dürfen mit ihren Großeltern und vielen anderen Verwandten aufwachsen. Das ist ein echtes Privileg“, sagt Katharina Schulz und möchte dieses Gefühl von Zugehörigkeit auch anderen Menschen ermöglichen.
Menschen, denen sie Wege aus dem sozialen Abseits zeigt, indem sie sichtbar macht, wie viele Anlaufstellen es in Reinickendorf bereits gibt. An mehr als 100 Einrichtungen im Stadtbezirk kleben seit Neuestem Sticker. Sie zeigen eine Figur, die im Strudel der Einsamkeit gefangen ist und die vielen bunten Möglichkeiten hinter ihrem Rücken nicht sieht. Der zugehörige Slogan „Offenes Herz! Offenes Ohr! Gegen Einsamkeit!“ ist Programm. Freizeit- und Stadtteilzentren, Quartierbüros, Apotheken, Restaurants, Kirchen und Religionsgemeinschaften machen ihre Türen weit auf, bieten Begegnung und Unterstützung an.
Auch für junge Menschen. In der Corona-Pandemie war diese Generation besonders stark von Einsamkeit betroffen. „Die Zahlen sind danach nie wieder auf das alte Niveau gesunken. Das liegt auch an der Digitalisierung. Man kann 2.000 Follower bei Instagram haben. Doch diese schöne virtuelle Welt ist nicht das reale Leben. Wer das Handy weglegt und alleine in seinem Zimmer sitzt, merkt sehr schnell, dass echte Beziehungen fehlen.“ In Reinickendorf gibt es daher ein starkes Netz, das Jugendliche und Heranwachsende auffängt.
Ehrenamt als wichtiger Baustein
Da gibt es viele Jugendclubs, Freizeitzentren oder auch das Streetwork-Team Gangway, das offene Ohren für Jugendliche hat. Daneben auch Projekte, die Jung und Alt zusammenbringen. „Wir arbeiten mit Schulen zusammen und haben 2024 einen Workshop zum Thema ‚Einsamkeit und Ehrenamt‘ an einem Gymnasium angeboten.“ Die Schülerinnen und Schüler verbrachten Zeit mit älteren Menschen im Seniorenheim und nahmen am Reinickendorfer Einsamkeitsgipfel teil. Sie schrieben Gedichte und sprühten Graffitis gegen Einsamkeit. „Das wollen wir weiter ausbauen.“
Ehrenamtliche Tätigkeiten sind ein wichtiger Baustein, wenn es darum geht, Menschen vor Ort einzubinden. Katharina Schulz weiß das besonders gut, denn sie ist nicht nur Einsamkeitsbeauftragte, sondern auch Ehrenamtsbeauftragte von Reinickendorf. „Ein Ehrenamt ist sinnstiftend, hilft zum Beispiel Menschen im Ruhestand eine Wochenstruktur aufzubauen. Man schenkt anderen seine Zeit, aber man bekommt auch unglaublich viel zurück.“
Neue Begegnungsräume schaffen, ist eine Devise in Reinickendorf. Aber es geht auch darum, vorhandene zu nutzen – etwa dort, wo Menschen in einer Nachbarschaft miteinander leben. Dabei kommt es nicht auf große Gesten an, sondern auf Kleinigkeiten. „Ein kurzes Nicken im Hausflur. Einfach mal nicht wegschauen, sondern lächeln. Denn Lächeln ist der kürzeste Weg zwischen zwei Menschen.“ Ein freundliches „Hallo“, ein ehrliches „Wie geht es dir?“ oder eine kleine Aufmerksamkeit vor der Wohnungstür an Weihnachten können viel bewirken.
Von Straßenfesten und Quasselbänken
„Es macht mich traurig, wenn ich höre, dass langjährige Nachbarn sich nicht kennen. Oder wenn mir Leute erzählen, dass sie seit sieben Jahren alleine Weihnachten feiern“, sagt Katharina Schulz. „Dabei kann jede und jeder ein Teil der Lösung sein. Wir müssen achtsamer miteinander umgehen. Das erfordert Mut, aber zahlt sich aus.“ Wie sehr, zeigt das Vorbild ihres eigenen Vaters. Als er nach Reinickendorf zog, veranstaltete er zum Einstand ein kleines Fest für die Nachbarschaft. Dieses Jahr findet es zum 14. Mal statt – samt Straßensperrung, Kinderschminken und Ponyreiten.
Welche Dynamik ein erster Schritt entfalten kann, zeigt auch das Beispiel eines Familienvaters, der von den Reinickendorfer Quasselbänken gehört hatte. „Wir stellen sie hier in vielen Ortsteilen auf, um Gespräche zu fördern. Er rief an und fragte, ob er auch für seine Nachbarschaft so eine Bank beantragen könne.“ Mittlerweile steht nicht nur die lila-gelbe Bank im Kiez, sondern drumherum wurden Beete bepflanzt und Tische für Kinder zum Malen aufgestellt. So kommen Menschen in Kontakt, die sich sonst vielleicht nicht kennengelernt hätten.
Was aber, wenn Einsame sich kaum noch vor die Tür wagen – sei es, weil sie gebrechlich sind oder so zurückgezogen leben, dass einfach der Mut fehlt. Hier kann der Gratulationsdienst, der Jubilare besucht, eine Verbindung herstellen. „Die Mitarbeitenden melden mir, wenn jemand Hilfe braucht.“ Dann schaut Katharina Schulz nach passenden Angeboten und schickt jemanden von den „Berliner Hausbesuchen“ vorbei. Das sind Lotsinnen und Lotsen, die ältere Menschen über Hilfen und Möglichkeiten in ihrem Kiez informieren.
Einsamkeit: eine Gefahr für die Demokratie
In Berlin-Reinickendorf greifen viele Zahnräder ineinander, um jene in die Gemeinschaft zu integrieren, die irgendwie den Anschluss verloren haben. Rein statistisch gesehen sind das in dem Bezirk mindestens 26.600 Menschen. Der Ort und das Team Demirbüken-Wegner & Schulz haben sich damit einen Namen gemacht. Immer wieder erreichen sie Anfragen aus dem In- und Ausland. Sogar das südkoreanische Fernsehen war schon da, um die Arbeit der Einsamkeitsbeauftragten zu dokumentieren.
Es zeigt, dass Einsamkeit ein großes Thema ist und weltweit zunehmend an Bedeutung gewinnt – besonders in den Industrienationen. England und Japan sind seit 2021 Vorreiter mit eigenen Einsamkeitsministerien und stehen im regelmäßigen Austausch. „Es ist so wichtig, dass wir uns mit dem Thema auseinandersetzen, denn eine gute Anbindung an die Gemeinschaft beugt nicht nur Krankheiten vor, sondern auch politischer Radikalisierung. Chronische Einsamkeit ist eine Gefahr für die Demokratie“, warnt Katharina Schulz.
Doch die Reinickendorferin verharrt nicht gerne bei Problemen, sondern wendet ihren Blick lieber der Lösung zu. Und der Erfolg ihrer Arbeit gibt ihr recht. In Reinickendorf treffen sich Menschen zu Stammtischen gegen Einsamkeit, tanzen Senioren Ballett, sitzen junge Leute im Jugendcafé und Nachbarn quasselnd auf bunten Bänken. Hier kommen Fremde an Weihnachten zusammen, um im festlich geschmückten Saal Gänsekeule und Gemeinschaft zu genießen. Für solche Momente setzt sich Katharina Schulz ein. Mit Ideen, Energie und Leidenschaft.
Anlaufstellen gegen Einsamkeit
- Einsamkeitsbeauftragte des Bezirksamts Berlin-Reinickendorf: Informationen und lokale Angebote gegen Einsamkeit
- Kompetenznetz Einsamkeit (Deutschland): Übersicht bundesweiter Unterstützungsangebote
- Plattform gegen Einsamkeit (Österreich): Anlaufstellen und Projekte