Mediennutzung

Kind, beweg dich! Vom schwierigen Umgang mit Stubenhockern

Eine Mutter, vier Jungs, ein Bolzplatz, mehrere Handys – viel Konfliktpotenzial, wenn es ums Thema Freizeitgestaltung geht. Die Kinder wollen nicht weg vom Bildschirm, die Mutter möchte, dass sie rausgehen und aktiv sind. Was können Eltern tun?

veröffentlicht am 30.09.2025

Samstag, 15 Uhr. Vor dem Haus der Löhrmanns liegt ein kleiner Bolzplatz. Der Platz ist brandneu. Mit Kunstrasen, Rundumbande und sogar einer Flutlichtanlage. Doch die vier Jungs der Familie bleiben lieber zu Hause, Fußballschuhe und Schienbeinschoner liegen ungenutzt im Schrank. Stattdessen häufen sich im Wohnzimmer die Diskussionen. „Kommt, geht doch mal raus, nur eine Stunde!“, ruft Mutter Clara. Die Brüder, zwischen sechs und fünfzehn Jahre alt, schauen sie genervt an – geradezu so, als hätte sie zur Alpenüberquerung gerufen. „Och nö, Mama, kein Bock!“ Der Erste winkt ab. Zwei andere geben sofort klein bei. Und der Älteste? Zieht seine Zimmertür zu, er will Ruhe und überhaupt: Sport ist nicht seins, und erst recht kein Fußball.

Die Mutter seufzt: „Wenn nur einer nicht will, kippt die Stimmung bei allen. Und ich darf mir wieder irgendwas einfallen lassen.“ Ihre „Waffen“: klassisches Drohen mit Handy- oder Tabletverbot. Ein Machtspiel, das ihr im Alltag mehr Energie raubt, als ihr lieb ist. „Oft ist mir das zu doof“, gibt sie ehrlich zu. „Aber ich sehe keinen anderen Weg. Mir ist es wichtig, dass sie sich draußen bewegen – so war meine Kindheit und so wünsche ich es mir im Grunde auch für meine Söhne.“ Die aber haben oft ganz andere Vorstellungen für die Freizeitgestaltung. Würde es nach ihnen gehen, würden sie den ganzen Tag zocken. Dafür gibt es im Hause Löhrmann klar verordnete Limits – doch auch das führt nicht dazu, dass die Kinder freiwillig den Weg vor die Tür antreten. Dabei klappt es bei den jüngeren noch besser als bei den älteren Kindern.

Nach der Schule geht's an Tablet, Smartphone und Konsole 

Familienszenen wie diese sind in Deutschland längst keine Seltenheit mehr. Wo Kinder früher nach den Hausaufgaben ganz selbstverständlich draußen spielten, ist heute Stubenhocken oft die Normalität. Ist die Schule aus, ruft die Couch. Tablet, Smartphone und Konsole üben eine magnetische Wirkung aus und sind für viele Kinder weitaus verlockender als Fußball, Frisbee oder Fangen spielen.

Diese Entwicklung lässt sich mit Zahlen untermauern: Nach der aktuellen JIM-Studie des Medienpädagogischen Forschungsverbunds Südwest von 2024 verbringen Jugendliche in Deutschland durchschnittlich etwa 3,5 Stunden im Netz. Andere Untersuchungen kommen gerade bei älteren Jugendlichen auf mehr als zehn Stunden. Fazit: Viele Kinder und Jugendliche sind längst nicht mehr einfach „da draußen“ – sie sind „always online“.

Unvergessen sind die Zeiten mit Schnurtelefon und Walkman

Ein kurzer Sprung zurück in die 1980er, die Jugendzeit auch von Mutter Löhrmann. Wer sich damals langweilte, war gezwungen, kreativ zu werden. Mediale Versuchungen gab es wenig. Im Fernsehen liefen drei Programme, wo man sich versammelte, über die Auswahl diskutierte und einigen musste. Das einzige (!) Telefon im Haus stand fest verkabelt im Flur und der Walkman lief sparsam nur auf halber Lautstärke, weil die Batterien lange halten sollten. Die Kinderzimmer waren kleiner und oft vollgestopft mit Geschwistern, die mitunter so lange nervten, dass die Fluchtgedanken nach draußen von ganz alleine kamen. WLAN? Natürlich Fehlanzeige.

Heute dagegen hat fast jedes Kind seinen eigenen Rückzugsort zuhause – ein eigenes Reich mit einem gemütlichen Zimmer und natürlich mit einer eigenen technischen Ausstattung. Dafür sorgen die Eltern: Den Kindern soll es an nichts fehlen. Auch die Stimmung ist eine andere. Anders als die Vorgängergeneration, prägt ein zugewandter Erziehungsstil den Alltag. Eltern verstehen sich als Freunde der eigenen Kinder, der Austausch erfolgt oft auf Augenhöhe. Eine gute Stimmung in den eigenen Wänden ist wichtig. Ist dann jeder in seiner (medialen) Welten versunken, herrscht angenehme Ruhe. Was bitte sollte einen da nach draußen ziehen?

Natürlich hat Stubenhocken Folgen. Fehlende Bewegung kann zu Konzentrationsschwierigkeiten und Gereiztheit führen. Wer viel im Haus bleibt, bekommt auch weniger Gelegenheiten, Muskeln und Sozialkompetenz zu trainieren: Toben auf dem Bolzplatz, Fangen im Park, Fahrradfahren über Stock und Stein – all das sind Trainings für Körper und Seele. Man lernt, sich einzuschätzen: Wie schnell bin ich? Und wie stark? Wie fühlt es sich an, wenn man hinfällt? Und wie bilden sich zum Spiel zwei Mannschaften, wenn kein Erwachsener eingreift?

Und dennoch: Eltern sollten nicht so tun, als sei Pubertät einfach nur Faulheit oder Trägheit. Sie ist für die Jugendlichen selbst eine sehr anstrengende Zeit. Der eigene Körper verändert sich und mit dem hormonellen Chaos im Kopf fahren die Gefühle oft Achterbahn. Wer da gerne und viel zu Hause ist, sucht Ruhe und Geborgenheit und damit vielleicht eine Welt, die leichter zu kontrollieren ist als die unberechenbare „draußen“.

Es gibt immer weniger Orte, an denen Jugendliche sich aufhalten können 

Hinzu kommt: Wozu rausgehen, wenn alle Freunde auch zu Hause hocken? In einer Zeit, in der Kommunikationsplattformen komplette Schulklassen ersetzen, verliert der Gang vor die Tür an Attraktivität. Orte, an denen Jugendliche ganz aufrichtig willkommen sind, werden zudem weniger. Jugendzentren schließen, Vereine sprechen nicht jeden an und Treffpunkte ohne Konsumzwang sind rar. Wer ehrlich ist, versteht: Drinnen zu bleiben ist oft die logischere Wahl.

Wie geht man als Eltern damit um? Clara Löhrmann hat beschlossen, sich selbst als Vorbild an die Spitze zu stellen. Nach einer Mutter-Kind-Kur nahm sie sich vor, abends regelmäßig selbst zu den Nordic Walking-Stöcken zu greifen. Am liebsten würde sie dabei einen ihrer Söhne dabeihaben – wenn nicht zu Fuß, dann wenigstens auf dem Fahrrad nebenher. „Ich weiß, Kinder orientieren sich viel mehr an dem, was wir tun, nicht an dem, was wir sagen“, meint sie. „Darum muss ich vorangehen, im wahrsten Sinn des Wortes. Ich kümmere mich um mich und meinen Körper – das sollen sie gerne sehen.“

Die Mutter hofft, dass die Kinder später Spaß an der Bewegung finden 

Mit diesem Ansatz trifft sie einen zentralen Punkt: Wenn Eltern das Tablet zur Seite legen und den Fernseher ausschalten, wenn sie aktiv sind und zeigen, dass Bewegung Freude macht und, wie das Zähneputzen am Morgen, Teil des Alltags ist, setzen sie für ihre Kinder ein starkes Zeichen. Clara Löhrmann: „Ich denke oft, dass ich mit meinem Handeln einen Samen in die Erde lege. Vielleicht geht er auf und die Kinder finden vielleicht nicht heute, aber irgendwann im Leben Spaß an der Bewegung in frischer Luft. Ganz nach dem Motto: Es war doch nicht alles blöd, was die Eltern uns abverlangt haben.“ Zu ihrer Freude gelingt es immer mal wieder, die gesamte Familie in Bewegung zu bringen. Glücksmomente für die Eltern und auch für die Kinder, denn nach der Aktion sind sie oft sehr einverstanden mit dem, was ihnen da „angetan“ wurde.

Ein gutes Zeichen, wenn es um die Frage geht, ob sich der Aktivitätsgrad noch im normalen Rahmen bewegt oder nicht. Denn Stubenhocken kann unterschiedliche Ausprägungen haben. Ein Kind, das nach der Schule in seinem Zimmer verschwindet, auch mal rausgeht, aber eben nicht sofort und nicht so oft, wie die Eltern es sich wünschen, zeigt zunächst kein problematisches Verhalten. Erst wenn sich das Kind komplett zurückzieht, es keine Freude an Hobbys, kaum noch Kontakt zu Gleichaltrigen hat, wenn das Draußen nicht nur gemieden wird, sondern dem Kind vielleicht sogar Angst macht, dann sollten die Signale ernstgenommen werden. Ein Gespräch in der Kinder- oder Jugendpsychologie, in Beratungsstellen oder auch in der vertrauten Kinderarztpraxis kann helfen, die Situation einzuordnen. Sich professionelle Hilfe zu holen, ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Fürsorge.

Das Stubenhocker-Dasein kann aus Elternsicht auch manchmal wirklich kurios sein. Da liegt der Bolzplatz direkt vor dem Haus, aber die Kinder wollen lieber online den Doppelpass im Fifa-Fußball-Game trainieren. Da wird die „Lagerfeuer-Romantik“ über ein Handyvideo bewundert, während draußen im Garten tatsächlich die Grillkohle glüht. Fakt ist: Wir leben in einer Zeit, in der die virtuelle Erfahrung oft spannender wirkt als das reale Abenteuer. Was können wir tun?

Kinder brauchen Körpererfahrungen, sonst leiden Leib und Seele 

Es hilft, zwei Dinge gleichzeitig zu sehen: Kinder von heute haben zu Hause Bedingungen, die es früher so nicht gab. Ihr „Stubenhocken“ ist kein böser Wille, sondern eine logische Folge der Welt, in der sie aufwachsen. Und trotzdem steht fest: Kinder brauchen Körpererfahrungen, draußen sein, Bewegung, Anstrengung, sonst verharren sie in Bequemlichkeit, an der der Körper und in der Folge auch der Geist leiden.

Für die Eltern heißt das: geduldig bleiben, Verständnis zeigen, aber auch dranbleiben. Mütter und Väter müssen Gelegenheiten schaffen, statt nur zu fordern. Manche Kinder brauchen klare Regeln, andere eher Begleitung.

Die Eltern sollen keine Freizeitmanager sein, sondern präsente Bezugspersonen

Kinder sollen begreifen und von den Eltern lernen: Körper und Leben sind ein Geschenk. Je älter wir werden, desto mehr Verantwortung tragen wir dafür – nicht, weil es jemand von uns fordert, sondern weil wir dieses Geschenk wertschätzen. Und diese Botschaft vermitteln wir am glaubwürdigsten nicht in Worten, sondern in unserem Tun.

Es geht nicht darum, den Kindern den Tag vollzupacken. Kinder brauchen in erster Linie keine Freizeitmanager, sondern präsente Eltern und Bezugspersonen. Menschen, die da sind, mitmachen und selber aktiv sind. Ein Spaziergang, ein Tischtennismatch, gemeinsames Radfahren – manchmal reichen schon 20 Minuten, damit das Stubenhocken unterbrochen wird. Hinzu kommen besondere Erlebnisse in Verbindung mit Bewegung. Minigolf, Schwimmbad, Trampolinhalle – auch Familie Löhrmann weiß davon zu berichten. Motivieren ist weit mehr als der Satz „Geh doch mal raus an die frische Luft!“.

7 Tipps gegen Stubenhockerei – zusammengetragen von Stefanie Kortmann

1. Gemeinsam statt allein
Viele Kinder bewegen sich ungern allein. Deshalb: andere Familien mit Kindern einladen, Ausflüge gemeinsam als Familie machen und Bewegung als soziales Erlebnis gestalten nach dem Motto: Wir machen das zusammen!

2. Feste Bewegungszeiten etablieren
Wenn bestimmte Zeiten festgelegt sind, zum Beispiel: Jeden Sonntag nach dem Frühstück machen wir einen Spaziergang, werden diese Aktivitäten zur Routine – und nicht mehr so viel diskutiert.

3. Vorbild sein
Kinder lernen am meisten durch Beobachtung. Wenn Eltern selbst regelmäßig spazieren gehen, im Garten arbeiten oder Sport treiben und dabei Spaß haben, färbt das ab.

4. Bildschirmzeit koppeln
Ohne Druck, aber mit klaren Regeln: Erst Bewegung, dann Bildschirmzeit. Zum Beispiel: 30 Minuten draußen = 30 Minuten Bildschirmzeit. Wichtig ist dabei Konsequenz, aber auch Fairness. So lernen Kinder, dass Bewegung ein normaler Teil des Tages ist.

5. Ehrenamtliche Aufgaben im Freien übernehmen
Ob Müllsammeln im Park, Hilfe im Nachbarsgarten oder Besuchsdienst: Wer anderen hilft, hat einen sinnvollen Grund, die eigenen vier Wände zu verlassen.

6. Einen Garten oder Balkon aktiv nutzen
Pflanzen, ernten oder einfach draußen lesen: Ein bepflanzter Balkon oder ein (Gemeinschafts-)garten laden zum Draußensein ein – auch im kleinen Rahmen.

7. Haustiere als Bewegungsmotivation
Ein Hund will Gassi gehen – täglich! Haustiere sorgen für Verantwortung und regelmäßige Bewegung. 


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