Gefängnisseelsorge

Wie junge Inhaftierte mit ihrer Schuld umgehen

„Schuldig im Namen des Volkes“, sagt der Richter nach einer Verurteilung. Zum Beispiel bei Mord, Totschlag oder Raub. In der Jugendstrafanstalt Berlin sitzen junge Männer ein, die schuldig geworden sind und die Konsequenzen zu tragen haben. Ein Besuch.

veröffentlicht am 02.09.2025

  • Nina Schmedding/KNA

Nicht nach draußen gehen können – oder einfach aus dem Zimmer. Auf jemanden angewiesen sein, der einen Schlüssel hat. Darauf warten müssen, dass er aufschließt. Jeden Tag, jedes Mal, jahrelang. Bis die Strafe abgesessen ist. Allein in der Zelle, allein mit den Gedanken. Allein mit der Schuld.

Wer zum ersten Mal im Gefängnis einsitzt, erleidet in der Regel einen Schock. „Inhaftierungsschock“ heißt das in der Fachsprache, eine Reaktion auf den plötzlichen Freiheitsentzug. 57.000 Gefangene sind derzeit in den Justizvollzugsanstalten in Deutschland inhaftiert, 320 in der Jugendstrafanstalt Berlin in Plötzensee im Norden der deutschen Hauptstadt.

Einer von ihnen ist Frederik, blond mit hellen Augen, der wie alle Gefangenen in dieser Geschichte eigentlich anders heißt. Er sagt: „Ich denke jeden Tag daran, was ich getan habe.“ Seit vier Jahren ist der 24-Jährige im Gefängnis – verurteilt wegen Mordes. „Schuldig im Namen des Volkes“, sagte der Richter bei der Urteilsverkündung.

Im Streit hatte Frederik einen Menschen erstochen 

„Ich weiß, dass ich irgendwann wieder nach Hause kann. Jemand anders kann nie wieder nach Hause.“ Dieser andere ist der Unbekannte, den er in einem Streit getötet hat. „Abgestochen“, wie Frederik selbst sagt.

Das Jugendgefängnis liegt unweit der Justizvollzugsanstalt Plötzensee für Erwachsene. Vergitterte Fenster, Stacheldraht auf dem Dach. Hinter jedem, der hineingeht, schließt sich eine dicke Tür, die er allein nicht mehr aufbekommt.

Diakon Thomas Marin – grauer Bart, wache Augen, Berliner Schnauze – ist hier seit 18 Jahren katholischer Seelsorger für die jungen Gefangenen, die zwischen 14 und 24 Jahren alt sind. Wenn er mit dem Generalschlüssel quer über den Hof geht, kann es passieren, dass ihn einer der Gefangenen, der gerade mit einem Betreuer auf dem Weg zum Fußballplatz ist, ruft: „Herr Marin, wie geht’s Dir? Bis bald, mein Bester!“ Marin antwortet dann meist etwas schnoddrig – „Bis eben noch janz jut.“ Dann schiebt er erklärend nach: „Die Jungs wissen, dass ich sie mag.“

Termine mit dem Seelsorger sind in der Anstalt begehrt 

In einem Nebengebäude im zweiten Stock hat er sein Büro. Hier trifft sich seine Gruppe, hier führt er Einzelgespräche. Gesellschaftsspiele stehen im Regal, an der Wand ein Kreuz und ein Bild von Papst Leo XVI. Sie trinken Kaffee, reden oder spielen einfach nur Karten. Manchmal singen sie auch aus den zerfledderten Liederbüchern.

Termine mit Marin sind in der Anstalt begehrt, die Gottesdienste sonntags ganz gut besucht. „Es ist natürlich auch eine Abwechslung“, sagt der 59-Jährige. „Hier ist es ja recht ‚reizarm‘“.

„Lass Dich nicht vom Bösen überwinden. Sondern überwinde das Böse mit Gutem“: Dieser Vers aus dem biblischen Römerbrief hängt an einer Wand auf dem Flur vor Marins Büro. „Es ist den allermeisten schon bewusst, dass sie ein Unrecht begangen haben“, sagt der Seelsorger. Nur ganz selten werde eine Tat als solche nicht eingesehen.

Frederik hat der Mutter des jungen Mannes, den er getötet hat, in einem Brief geschrieben, wie sehr ihm seine Tat leidtut. „Eine Entschuldigung hätte die Mutter nicht akzeptiert“, sagt Marin. „Aber den Brief als solchen schon.“ Und Frederik hat seine Tat auch bei einem Priester gebeichtet. Andere Straftäter, die nicht katholisch und auch nicht religiös sind, haben ihre Tat Diakon Marin erzählt. „Es gibt ein Bedürfnis nach Vergebung der Schuld“, sagt er.

Diakon Marin: „In erster Linie geht es mir darum, für den Menschen da zu sein“

Missionieren will er nicht. „Ich schüttel hier keine Bibelsprüche aus dem Ärmel. In erster Linie geht es mir darum, für den Menschen da zu sein“, stellt er klar. „Ich möchte den Jungs, die zu mir kommen, einen anderen Horizont aufspannen. Dass da vielleicht eine Dimension ist, die man an sich ranlassen kann.“

Frederik trägt unter dem T-Shirt einen Rosenkranz mit weißen Perlen wie eine Kette um den Hals. Nicht nur heute, wenn „die Presse“ da ist. Sondern jeden Tag, wie er erzählt. Er bete auch jeden Abend. „Auch für die Mutter meines Opfers. Ich bete dafür, dass es ihr gut geht.“ Manchmal zweifele er aber auch an Gott, sagt er. „Wenn es ihn gibt, warum hat er dann zugelassen, dass ich so etwas tue?“ Dass er abgerutscht sei, daran hätten seine Eltern keine Schuld: „Ich bin selbst schuld. Ich hatte eine wunderschöne Kindheit. Ich hatte alles.“

So sieht es auch sein Kumpel Jan, 20 Jahre alt. Manchmal, wenn er morgens aufwacht, glaubt er, dass alles wieder in Ordnung, dass er in Freiheit ist. Das sind die guten Nächte. „Dann träume ich oft von meiner Familie, meinen Freunden. Das Draußen spielt dabei immer eine Rolle“, sagt Jan. Es gibt aber auch die bösen Träume. „Da geht es um die Tat.“ Auch er ist wegen Mordes verurteilt, war bei der Tat noch minderjährig.

Bari hat das Datum seiner Tat genau im Kopf

Das Wichtigste sind für ihn die Besuche seiner Familie. Den Geburtstag seiner Schwester hat Jan, ein muskulöser, sportlicher Typ, auf den Arm tätowiert. Auch er geht in den Gottesdienst, obwohl er nicht getauft ist. „Viele hier mit ihren Problemen interessieren sich dafür. Auch mir gibt es Hoffnung.“

Bari, 18 Jahre alt und wegen versuchten Totschlags verurteilt, hat Seelsorger Marin ein Schachbrett aus Holz gezimmert. Glatt geschliffen steht es in dem kleinen Büro. „Weil ich Herrn Marin so dankbar bin“, sagt Bari, der in der Gefängniswerkstatt Tischler lernt.

Von dem Mann, den er fast getötet hätte, sah er sich selbst und seine Familie bedroht, erzählt er. So sei es dann passiert. „Für mich hat es sich angefühlt, als hätte ich mich verteidigt.“ In gewisser Weise sei er froh, dass er jetzt „im Knast“ sei, sagt der junge Afghane, ein schlanker Mann mit kurzen dunklen Haaren. Er empfinde die Strafe als etwas, das er verdient habe. „Auch wenn man es nicht wieder gut machen kann.“ Er habe das Datum, an dem er jedes Jahr einmal vorbeimuss, genau im Kopf und wisse auch noch, was er anhatte an jenem Tag. „Man vergisst es nie. Wie den Geburtstag.“

Keiner geht so aus dem Knast, wie er hineingekommen ist 

Morgens aufstehen, dann Schule oder Arbeit in den Werkstätten, danach Mittagessen, nachmittags Freizeit. Bari zum Beispiel hat Gitarrenunterricht. Beim Kaffeetrinken in Marins Büro zeigt er, was er gelernt hat, spielt ein Lied. „Über den Wolken, da muss die Freiheit wohl grenzenlos sein“ von Reinhard Mey, das mag er am liebsten. Marin und die anderen nennen es das „Uber-Lied“. „Weil ich so Probleme habe, das ‚Ü‘ auszusprechen“, sagt Bari mit einem Schmunzeln.

Die Jungs aus Marins Gruppe mögen einander und sprechen viel über private Dinge, berichtet Amad, ein junger Iraner, der zu seiner Schlabberhose ein gestreiftes Friesenhemd trägt. Er habe im Knast das Häkeln von Kuscheltieren als Hobby entdeckt, erzählt er und zeigt stolz einen braunen Hasen.

Sprechen sie auch über ihre Taten? „Nein, darüber reden wir nicht. Wir wissen aber, was jeder gemacht hat.“ Amad sitzt wegen schweren Raubes ein, verurteilt zu sechs Jahren. Er sagt: „Warum wir hier sind, das wird uns bis ans Ende unseres Lebens begleiten. Wir haben aber daraus gelernt. Das Gute davon nehmen wir mit.“

„Man kann die Zeit auch als Chance sehen“

Auch Thomas Marin glaubt, dass keiner aus dem Knast herausgeht, wie er hineingekommen ist. „Ob das besser oder schlechter ist, liegt an ihnen selbst, sage ich den Jungs immer“, erklärt der Seelsorger. „Die Zeit hier kann man nutzen und auch als Chance sehen: Es gibt welche, die machen hier im Gefängnis ihr Abitur. Draußen hätten sie vielleicht weiter Drogen gedealt.“


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