Geschwister

Meine Tochter ist ein Einzelkind

Als Kinder sind sich Stefanie Kortmann und ihr Bruder aus dem Weg gegangen. Heute verstehen sie sich gut und können sich aufeinander verlassen. Dass ihre Tochter ein Einzelkind bleiben wird, macht die Mutter manchmal traurig.

veröffentlicht am 03.02.2023

Mucki-Reiten war das Schlimmste, was mir in meiner Kindheit widerfahren konnte. Ich lag auf dem Rücken. Mein Bruder, drei Jahre älter, saß auf mir, presste meine Handgelenke brutal in den Flokati-Teppich und rubbelte gleichzeitig mit seinen Knien auf meinen Oberarmen rum. Ich weiß nicht mehr, was mir mehr zu schaffen machte: die Schmerzen oder das schreckliche Gefühl, so hilflos zu sein. Er hatte natürlich seinen Spaß – und für sich sicher auch einen guten Grund, der kleinen Schwester mit ihrem oft vorlauten Schnabel so die Grenzen aufzuzeigen. Für mich waren diese Momente einfach nur schrecklich. Schlimmer als das Einseifen mit Schnee im Winter oder der heimliche Tritt vor das Schienbein unterm Tisch, wenn wir uns um die Haut auf dem Vanillepudding stritten.

Zum Glück kam das alles eher selten vor, denn eigentlich war unsere Beziehung vor allem dadurch geprägt, dass wir uns aus dem Weg gingen, wo immer es möglich war. Je größer wir wurden, desto unterschiedlicher entwickelten wir uns. Wären wir nicht Geschwister und damit ungefragt und unwiderruflich durch das Band der Familie zusammengezurrt - wir hätten uns sehr wahrscheinlich irgendwann komplett aus den Augen verloren. Gerade weil wir so unterschiedlich waren, habe ich mir oft eine Schwester gewünscht und das sogar Weihnachten auf dem Wunschzettel notiert: Tausche doofen Bruder gegen liebe neue Schwester. Die Mutter lachte: „Gibt es nicht“, sagte sie herzlich, aber unmissverständlich.

Das Leben hatte andere Pläne

Heute bin ich Mama und auch meine Tochter, ein Einzelkind, wünscht sich hin und wieder ein Geschwisterchen. „Gibt es nicht“, höre ich mich mit bestimmter Stimme sagen und erkläre ihr: „Du bist so gut geworden, da gab es einfach keinen Wunsch mehr nach einem weiteren Kind“. Diese Antwort soll ihr gut tun, ganz richtig ist sie nicht. Ich hätte ihr gerne einen Bruder oder eine Schwester an die Seite gegeben, aber das Leben hatte andere Pläne. Sie wird Einzelkind bleiben und das stimmt mich ein wenig traurig, denn wie wertvoll mein Bruder für mich ist, erschloss sich mir nicht in der Kindheit, sehr wohl aber in den Zeit danach.

Als wir Erwachsen wurden und der Kampf um die Aufmerksamkeit der Eltern nachließ, haben wir zusammengefunden. Wir haben eine gemeinsame Kindheit erlebt mit allem, was dazu gehört, Höhen und Tiefen. Wenn wir darüber reden, braucht es nicht viele Worte. Wir verstehen uns und sind uns noch immer gute Weggefährten. Auf die Frage, wen ich nachts anrufen und um Hilfe bitten könnte, wäre sein Name ganz oben auf der Liste. Dieses Urvertrauen tut gut. Ohne viel Bitten etwas zu bekommen, weil ich es bin, die einzige Schwester, die er hat.

Sie wird hoffentlich gute Freunde finden

Ich habe ihm viel zu verdanken. Unter ihm habe ich streiten, teilen und einstecken gelernt. Dank der Fußstapfen, die er als Erstgeborener hinterlassen hat, ging es für mich oft einfacher voran. Auch dafür muss ich rückblickend Danke sagen, vor allem aber dafür, dass ich ihn trotz aller Unterschiede bis heute immer an meiner Seite weiß.

Aus diesen vielen Gründen hätte ich meiner Tochter auch eine Schwester oder einen Bruder gewünscht. Aber so ist es nicht. Sie wird ihren eigenen Weg finden müssen und hoffentlich gute Freunde an ihrer Seite haben, die in diese Rolle schlüpfen. Was Mucki-Reiten ist und wie es sich anfühlt, mit Schnee eingeseift zu werden, habe ich ihr schon mal gezeigt – natürlich nur im Spaß.


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